25.11.10 |
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Hitlers Schergen sind unter uns. Doch wie lange noch?
von Constantin Magnis

Von den zehn meistgesuchten Nazi-Tätern lebten Anfang des Jahres noch sechs in Deutschland. Heute sind es nur noch drei. Denn die Kriegsverbrecher sterben schneller, als ihnen der Prozess gemacht werden kann.

Wäre es in diesem Zusammenhang nicht so völlig daneben, müsste man eigentlich auf das schon lange nicht mehr koschere Volkslied von den „zehn kleinen Negerlein“ verweisen: Zack, schon wieder einer weniger auf der Liste der Zehn. Diesmal hat es Samuel Kunz erwischt. Ein freundlicher, 89-jähriger Rentner, pensionierter Handwerker, ein tüchtiger Arbeiter, früher angestellt im Bundesbauministerium in Bonn. Aber der fleißige Kunz war noch etwas anderes: Er war SS-Mann im besetzten Polen, soll im Vernichtungslager Belzec zehn Juden ermordet und am Mord von weiteren 430.000 beteiligt gewesen sein. Eher zufällig entdeckten ihn Fahnder des US-Justizministeriums: Im Rahmen der Untersuchungen zum Prozess des SS-Schergen John Demjanjuk wurden historische Aussagen russischer Zeugen bekannt, die sich mehrmals auch auf Kunz beriefen. Das Landgericht Bonn hatte gerade das Verfahren eröffnet, als Kunz in diesem November starb. Eine Akte mehr fürs Altpapier. Ein Name weniger auf der Liste der zehn meistgesuchten NS-Kriegsverbrecher.

Der Mann, der diese Most-Wanted-Liste alter Nazis dieses Frühjahr aktualisiert und veröffentlicht hat, heißt Efraim Zuroff und lebt in Jerusalem. Er ist Direktor des Simon-Wiesenthal-Zentrums und Leiter der „Operation Last Chance“. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, die letzten NS-Mörder zu finden, zu jagen, vor Gericht zu bringen. Die gesuchten Personen auf seinen Top-Ten-Listen waren auf der ganzen Welt verstreut, von Ägypten bis Argentinien, gelegentlich tauchten auch Namen aus Deutschland auf. Dieses Frühjahr die Sensation: Sechs der meistgesuchten NS-Schergen lebten in Deutschland. Doch genauso schnell wie Zuroff die Namen auf seiner Liste hat, muss er sie auch wieder streichen. Die Männer sind uralt, sie sterben beinahe im Monatsrhythmus. Die Zeit wird knapp. Kunz war dieses Jahr das dritte Kreuz auf der Liste. „Unglaublich frustrierend“, sagt Zuroff, der die Opfer der Nazis um ihre Gerechtigkeit betrogen sieht.

Leute wie Samuel Kunz werden auf unterschiedliche Weise entdeckt: Journalisten stolpern während Recherchen über ihre Biografien, hauptamtliche Nazi-Jäger wie Zuroff stöbern sie – oft mit Hilfe bezahlter Informanten – in ihren Verstecken auf, Historiker stoßen während ihrer Forschungsarbeit auf ihre Namen. Weil Leute wie Zuroff und auch die Gerichte wissen, dass die Zeit knapp ist, wurden in den letzten Jahren Dutzende Fälle energisch aufgerollt, in Einzelfällen kam es auch zu Urteilen: Von Erich Priebke 1998 über Josef Scheungraber 2009 bis Heinrich Boere im März dieses Jahres, der Fall Iwan Demjanjuk steht noch immer in München vor Gericht.

Kunz ist das erspart geblieben, und nicht nur ihm. Der erste NS-Verbrecher, der dieses Jahr von Zuroffs gerade erschienener Liste verschwand, war der Duisburger Rentner Adolf Storms. Der ehemalige Bahnhofsbeamte wird verdächtigt, als SS-Mitglied an der Tötung von 58 jüdischen Zwangsarbeitern im März 1945 im österreichischen Dorf Deutsch Schützen teilgenommen zu haben. Auch er wurde eher durch Zufall von einem österreichischen Studenten bei dessen Forschungen zu dem Deutsch-Schützen-Massaker entdeckt. 2009 wurde Storms in Deutschland angeklagt, ein Jahr später, am 28. Juni 2010, war er tot. Der Prozess hatte sich von selbst erledigt.

Nur einen Monat später, am 25. Juli starb auch der 95-jährige Erich Steidmann. Der ehemalige SS-Hauptsturmführer und Polizeihauptmann im Warschauer Ghetto soll an Massenerschießungen von 30.000 Juden beteiligt gewesen sein. Unbehelligt bekam er nach dem Krieg eine Stelle als Polizist, wurde schließlich Fahrlehrer und SPD-Mitglied, verbrachte zuletzt einen ruhigen Lebensabend in einem Vorort von Hannover. Erst nach einer Recherche des SZ-Magazins wurde die Staatsanwaltschaft auf den mutmaßlichen Mörder aufmerksam und nahm im April ein Ermittlungsverfahren auf. Ein Herzanfall kam allem weiteren zuvor.

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