Von
den zehn meistgesuchten Nazi-Tätern lebten Anfang des Jahres
noch sechs in Deutschland. Heute sind es nur noch drei. Denn
die Kriegsverbrecher sterben schneller, als ihnen der Prozess
gemacht werden kann.
Wäre es in diesem Zusammenhang nicht so völlig daneben, müsste man eigentlich
auf das schon lange nicht mehr koschere Volkslied von den
„zehn kleinen Negerlein“ verweisen: Zack, schon wieder einer
weniger auf der Liste der Zehn. Diesmal hat es Samuel Kunz
erwischt. Ein freundlicher, 89-jähriger Rentner, pensionierter
Handwerker, ein tüchtiger Arbeiter, früher angestellt im
Bundesbauministerium in Bonn. Aber der fleißige Kunz war
noch etwas anderes: Er war SS-Mann im besetzten Polen, soll
im Vernichtungslager Belzec zehn Juden ermordet und am Mord
von weiteren 430.000 beteiligt gewesen sein. Eher zufällig
entdeckten ihn Fahnder des US-Justizministeriums: Im Rahmen
der Untersuchungen zum Prozess des SS-Schergen John Demjanjuk
wurden historische Aussagen russischer Zeugen bekannt, die
sich mehrmals auch auf Kunz beriefen. Das Landgericht Bonn
hatte gerade das Verfahren eröffnet, als Kunz in diesem November
starb. Eine Akte mehr fürs Altpapier. Ein Name weniger auf
der Liste der zehn meistgesuchten NS-Kriegsverbrecher.
Der Mann, der diese Most-Wanted-Liste
alter Nazis dieses Frühjahr aktualisiert und veröffentlicht
hat, heißt Efraim Zuroff und lebt in Jerusalem. Er ist Direktor
des Simon-Wiesenthal-Zentrums und Leiter der „Operation Last
Chance“. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, die letzten
NS-Mörder zu finden, zu jagen, vor Gericht zu bringen. Die
gesuchten Personen auf seinen Top-Ten-Listen waren auf der
ganzen Welt verstreut, von Ägypten bis Argentinien, gelegentlich
tauchten auch Namen aus Deutschland auf. Dieses Frühjahr
die Sensation: Sechs der meistgesuchten NS-Schergen lebten
in Deutschland. Doch genauso schnell wie Zuroff die Namen
auf seiner Liste hat, muss er sie auch wieder streichen.
Die Männer sind uralt, sie sterben beinahe im Monatsrhythmus.
Die Zeit wird knapp. Kunz war dieses Jahr das dritte Kreuz
auf der Liste. „Unglaublich frustrierend“, sagt Zuroff, der
die Opfer der Nazis um ihre Gerechtigkeit betrogen sieht.
Leute wie Samuel Kunz werden auf unterschiedliche
Weise entdeckt: Journalisten stolpern während Recherchen
über ihre Biografien, hauptamtliche Nazi-Jäger wie Zuroff
stöbern sie – oft mit Hilfe bezahlter Informanten – in ihren
Verstecken auf, Historiker stoßen während ihrer Forschungsarbeit
auf ihre Namen. Weil Leute wie Zuroff und auch die Gerichte
wissen, dass die Zeit knapp ist, wurden in den letzten Jahren
Dutzende Fälle energisch aufgerollt, in Einzelfällen kam
es auch zu Urteilen: Von Erich Priebke 1998 über Josef Scheungraber
2009 bis Heinrich Boere im März dieses Jahres, der Fall Iwan
Demjanjuk steht noch immer in München vor Gericht.
Kunz ist das erspart geblieben, und
nicht nur ihm. Der erste NS-Verbrecher, der dieses Jahr von
Zuroffs gerade erschienener Liste verschwand, war der Duisburger
Rentner Adolf Storms. Der ehemalige Bahnhofsbeamte wird verdächtigt,
als SS-Mitglied an der Tötung von 58 jüdischen Zwangsarbeitern
im März 1945 im österreichischen Dorf Deutsch Schützen teilgenommen
zu haben. Auch er wurde eher durch Zufall von einem österreichischen
Studenten bei dessen Forschungen zu dem Deutsch-Schützen-Massaker
entdeckt. 2009 wurde Storms in Deutschland angeklagt, ein
Jahr später, am 28. Juni 2010, war er tot. Der Prozess hatte
sich von selbst erledigt.
Nur einen Monat später, am 25. Juli
starb auch der 95-jährige Erich Steidmann. Der ehemalige
SS-Hauptsturmführer und Polizeihauptmann im Warschauer Ghetto
soll an Massenerschießungen von 30.000 Juden beteiligt gewesen
sein. Unbehelligt bekam er nach dem Krieg eine Stelle als
Polizist, wurde schließlich Fahrlehrer und SPD-Mitglied,
verbrachte zuletzt einen ruhigen Lebensabend in einem Vorort
von Hannover. Erst nach einer Recherche des SZ-Magazins wurde
die Staatsanwaltschaft auf den mutmaßlichen Mörder aufmerksam
und nahm im April ein Ermittlungsverfahren auf. Ein Herzanfall
kam allem weiteren zuvor.
cicero.de
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