12.03.2012 | 18:31 Uhr derwesten.de
Wie Nazi-Ärzte bei der Contergan-Firma Grünenthal aufstiegen
Hayke Lanwert

Stolberg/Berg.-Gladbach. Bei der Contergan-Firma Grünenthal waren mehrere Ärzte und Chemiker tätig, die während des Nationalsozialismus leitende Positionen innehatten. Einige von ihnen waren nach dem Krieg wegen Versuchen an KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern verurteilt worden.

Sie hatten als leitende Ärzte in Konzentrationslagern gearbeitet, waren dort an grausamen wie tödlichen Menschen­experimenten beteiligt und ­berieten Adolf Hitler in ­Sachen Giftgas. Mindestens fünf führende Nationalsozialisten, Chemiker und Medi­ziner, setzten nach dem Krieg bei dem Stolberger Pharmaunternehmen Grünenthal ihre Karriere fort. Ausgerechnet bei jener Firma, die mit Contergan den größten deutschen Arzneimittel-Skandal verur­sachen sollte. Nur wenig ist ­davon bis heute bekannt, denn Grünenthal hält sein Archiv ­rigide verschlossen.
Ein "Schock" bei der Geburt

Stephan Nuding aus Bergisch-Gladbach ist inzwischen 51. Seine Mutter Helga hat mal über ihn gesagt, es sei „ein Schock“ für sie gewesen, als er geboren wurde. Ihr Wunschkind, das Baby, auf das sie so lange gehofft hatte, war mit einer unterentwickelten rechten Hand zur Welt gekommen, ihm fehlte ein Unterarmknochen, und dort, wo der linke Daumen sein sollte, war ihm ein fünfter Finger gewachsen.

Eines von etwa 10 000 ­Kindern weltweit, die um das Jahr 1960 herum verkrüppelt zur Welt kamen, weil Ärzte ihren Müttern das Schlaf­mittel Contergan empfohlen hatten. Ihr Kampf um Schmerzensgeld, um Rente und auch um die Hintergründe des Skandals währt bis heute.

Dass der ein oder andere Kriegsverbrecher in der ­jungen Bundesrepublik bei Grünenthal unterkam, ist nicht ganz neu. Schließlich stand bereits 1970, im Contergan-Prozess, der wissenschaftliche Direktor des Pharmaunternehmens, Dr. Heinrich Mückter, vor Gericht. Am Rande erwähnte er, dass er in der NS-Zeit stellvertretender Leiter des Instituts für Fleckfieber und Virusforschung in Krakau gewesen war. Ein Nebensatz nur, der damals ­keine Rolle spielte. Aber wer wollte, konnte nachforschen und leicht feststellen, dass die polnische Justiz Mückter später medizinische Experimente an KZ-Häftlingen vorgeworfen hat. Nicht wenige Menschen sollen dabei gestorben sein. Seiner Verhaftung entzog sich Mückter durch Flucht in den Westen, wo er ab 1946 in der Stolberger Firma für die Entwicklung von Contergan verantwortlich war.
Herausragende Positionen

Doch Heinrich Mückter, das wird erst jetzt deutlich, war nur einer von vielen ehemaligen Nazis bei Grünenthal. Und sie waren keine Mitläufer, keine kleinen Rädchen im System, sie füllten herausragende Positionen aus. KZ-Erfahrung hatte etwa auch Heinz Baumkötter, der erst in Mauthausen und ab 1941 in Sachsen­hausen als Lagerarzt tätig war. Wie Mückter experimentierte der aus Westfalen stammende Mediziner, ein SS-Hauptsturmführer, mit dem Leben von Häftlingen. Er injizierte ihnen Drogen, Gelbsucht-Erreger, verbrannte sie mit Phosphor. Der sowjetische ­Gerichtshof verurteilte ihn 1947 zu lebenslanger Haft.

Mitte der 50er nach Deutschland zurückgekehrt, musste er sich in Münster erneut verantworten. Die Richter befanden ihn für schuldig, Hunderte von Häftlingen ­selektiert und hingerichtet zu haben. Baumkötter hatte Glück, seine Haft galt als in der Sowjetunion verbüßt. Zudem hatte er längst einen Arbeitgeber gefunden. Grünenthal beschäftigte ihn als Pharmareferenten und wissenschaftlichen Mitarbeiter. Grünenthal, die 1946 gegründete Pharmafirma der Wirtz-Gruppe („4711“, Tabac, Dalli, Tandil) nahm einige von ihnen auf. Martin Staemm­ler etwa. Auch er ein Arzt, vor allem ­jedoch NS-Rassenideologe und Mitherausgeber der Zeitschrift „Volk und Rasse“. 1960, man verdiente bereits hervorragend an Contergan, übernahm er die Pathologische ­Abteilung von Grünenthal.

Und da war nicht zuletzt Ernst Günther Schenk. Jener Arzt, der Adolf Hitler kurz vor seinem Suizid in der ehema­ligen Reichskanzlei beriet und später das Buch „Patient Hitler“ schrieb. Ihm werden als SS-Sturmbannführer und „Ernährungsinspekteur“ ebensolche Versuche im KZ Mauthausen vorgeworfen. Das Ermittlungsverfahren gegen ihn ­wegen Mordes wurde in den 60er-Jahren eingestellt. Von 1964 bis 1971 war Schenck für Grünenthal forschend tätig.
Das schreckliche Lifestyle-Produkt Contergan

Contergan, dieses angeblich harmlose Lifestyle-Produkt gegen Schlafprobleme und ­diffuse Nervosität, es wurde 1957 von Grünenthal auf den Markt gebracht. Erst Ende 1961, als die Häufung von ­behindert geborenen Babys längst augenfällig war, wurde es vom Markt genommen. Und erst danach verabschiedete die Bundesrepublik ein Arzneimittelgesetz, das ausgiebige klinische Tests an neuen Medikamenten vorschrieb. Ein Fakt, mit dem Grünenthal, mit dem dessen Besitzer-Familie Wirtz bis heute die eigene Verantwortung bagatellisiert.

„Die Ballung von ehe­maligen Nazis bei Grünenthal scheint mir wirklich auffällig. Vielleicht hat das Unternehmen damals bewusst auf dieses Netzwerk von Medizinern zurückgegriffen. Dass das Mittel Contergan bis heute auf dem Markt ist und immer noch gegen Lepra und als Krebs­mittel eingesetzt wird, ist ein Skandal für sich“, sagt der ­Berliner Medizinhistoriker Christoph Kopke.
War Contergan einst ein Gegenmittel für Sarin

Der Sprecher des Thalidomide Trusts, des britischen Verbandes der Contergan-Opfer, Martin Johnson, hegt seit 2009 einen noch weitergehenden Verdacht. Johnson ist ­davon überzeugt, dass Contergan nicht erst in den 50er -Jahren bei Grünenthal ent­wickelt wurde, sondern bereits in den frühen Vierzigern bei Rhone Poulenc. Die Firma war der französische Zweig von IG Farben, jenem Chemiekonzern, der auch das ­Konzentrationslager Auschwitz III betrieb. Johnson sammelt seit Jahren Beweise für die These, dass Thalidomid – so der ursprüngliche Name von Contergan – als Gegenmittel zu Nervengiften wie ­Sarin entwickelt wurde.

Giftgas-Experte und Vorstandsmitglied bei IG Farben war der Chemiker Otto ­Ambros. Ambros stand im IG Farben-Prozess vor Gericht, er galt als ein Hauptverantwortlicher für das KZ Auschwitz III. „In den Nürnberger Prozessen wurde Ambros zu acht Jahren Haft verurteilt. Nachdem er das Gefängnis in Landsberg verlassen hatte, zog er im Nadelstreifen-Anzug bei Grünenthal ein. Ambros wurde dort Aufsichtsrat“, sagt Stephan Nuding, einer von etwa 2300 in Deutschland noch lebenden Contergan-Geschädigten.
Opfer musste 16-maloperiert werden

Jahrzehnte hatte er sich mit seinem Schicksal arrangiert. 2007 schließlich strahlte die ARD den Zweiteiler „Eine einzige Tablette“ aus. „Ich wollte den Film eigentlich nicht ­sehen, aber dann habe ich geheult wie ein kleines Kind. So viel Verdrängtes kam hoch“, erzählt Nuding, der die ersten sechs Jahre seines Lebens ­zumeist im Krankenhaus verbrachte und 16 Operationen über sich ergehen ließ.

Nun kämpft Nuding, als ­Opfer und als Historiker, der die Hintergründe des Skandals aufdecken will. Stephan Nuding: „Wir sind fünfzig und unsere Körper fühlen sich an wie achtzig. Aber noch haben wir die Kraft!“

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