Stolberg/Berg.-Gladbach.
Bei der Contergan-Firma Grünenthal waren mehrere Ärzte und
Chemiker tätig, die während des Nationalsozialismus leitende
Positionen innehatten. Einige von ihnen waren nach dem Krieg
wegen Versuchen an KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern verurteilt
worden.
Sie hatten als leitende Ärzte in Konzentrationslagern gearbeitet, waren dort
an grausamen wie tödlichen Menschenexperimenten beteiligt
und berieten Adolf Hitler in Sachen Giftgas. Mindestens
fünf führende Nationalsozialisten, Chemiker und Mediziner,
setzten nach dem Krieg bei dem Stolberger Pharmaunternehmen
Grünenthal ihre Karriere fort. Ausgerechnet bei jener Firma,
die mit Contergan den größten deutschen Arzneimittel-Skandal
verursachen sollte. Nur wenig ist davon bis heute bekannt,
denn Grünenthal hält sein Archiv rigide verschlossen.
Ein "Schock" bei
der Geburt
Stephan Nuding aus Bergisch-Gladbach ist inzwischen 51. Seine Mutter Helga hat
mal über ihn gesagt, es sei „ein Schock“ für sie gewesen,
als er geboren wurde. Ihr Wunschkind, das Baby, auf das sie
so lange gehofft hatte, war mit einer unterentwickelten rechten
Hand zur Welt gekommen, ihm fehlte ein Unterarmknochen, und
dort, wo der linke Daumen sein sollte, war ihm ein fünfter
Finger gewachsen.
Eines von etwa 10 000 Kindern weltweit, die um das Jahr 1960 herum verkrüppelt
zur Welt kamen, weil Ärzte ihren Müttern das Schlafmittel
Contergan empfohlen hatten. Ihr Kampf um Schmerzensgeld,
um Rente und auch um die Hintergründe des Skandals währt
bis heute.
Dass der ein oder andere Kriegsverbrecher in der jungen Bundesrepublik bei Grünenthal
unterkam, ist nicht ganz neu. Schließlich stand bereits 1970,
im Contergan-Prozess, der wissenschaftliche Direktor des
Pharmaunternehmens, Dr. Heinrich Mückter, vor Gericht. Am
Rande erwähnte er, dass er in der NS-Zeit stellvertretender
Leiter des Instituts für Fleckfieber und Virusforschung in
Krakau gewesen war. Ein Nebensatz nur, der damals keine
Rolle spielte. Aber wer wollte, konnte nachforschen und leicht
feststellen, dass die polnische Justiz Mückter später medizinische
Experimente an KZ-Häftlingen vorgeworfen hat. Nicht wenige
Menschen sollen dabei gestorben sein. Seiner Verhaftung entzog
sich Mückter durch Flucht in den Westen, wo er ab 1946 in
der Stolberger Firma für die Entwicklung von Contergan verantwortlich
war.
Herausragende Positionen
Doch Heinrich Mückter, das wird erst
jetzt deutlich, war nur einer von vielen ehemaligen Nazis
bei Grünenthal. Und sie waren keine Mitläufer, keine kleinen
Rädchen im System, sie füllten herausragende Positionen aus.
KZ-Erfahrung hatte etwa auch Heinz Baumkötter, der erst in
Mauthausen und ab 1941 in Sachsenhausen als Lagerarzt tätig
war. Wie Mückter experimentierte der aus Westfalen stammende
Mediziner, ein SS-Hauptsturmführer, mit dem Leben von Häftlingen.
Er injizierte ihnen Drogen, Gelbsucht-Erreger, verbrannte
sie mit Phosphor. Der sowjetische Gerichtshof verurteilte
ihn 1947 zu lebenslanger Haft.
Mitte der 50er nach Deutschland zurückgekehrt,
musste er sich in Münster erneut verantworten. Die Richter
befanden ihn für schuldig, Hunderte von Häftlingen selektiert
und hingerichtet zu haben. Baumkötter hatte Glück, seine
Haft galt als in der Sowjetunion verbüßt. Zudem hatte er
längst einen Arbeitgeber gefunden. Grünenthal beschäftigte
ihn als Pharmareferenten und wissenschaftlichen Mitarbeiter.
Grünenthal, die 1946 gegründete Pharmafirma der Wirtz-Gruppe
(„4711“, Tabac, Dalli, Tandil) nahm einige von ihnen auf.
Martin Staemmler etwa. Auch er ein Arzt, vor allem jedoch
NS-Rassenideologe und Mitherausgeber der Zeitschrift „Volk
und Rasse“. 1960, man verdiente bereits hervorragend an Contergan,
übernahm er die Pathologische Abteilung von Grünenthal.
Und da war nicht zuletzt Ernst Günther
Schenk. Jener Arzt, der Adolf Hitler kurz vor seinem Suizid
in der ehemaligen Reichskanzlei beriet und später das Buch
„Patient Hitler“ schrieb. Ihm werden als SS-Sturmbannführer
und „Ernährungsinspekteur“ ebensolche Versuche im KZ Mauthausen
vorgeworfen. Das Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen Mordes
wurde in den 60er-Jahren eingestellt. Von 1964 bis 1971 war
Schenck für Grünenthal forschend tätig.
Das schreckliche Lifestyle-Produkt Contergan
Contergan, dieses angeblich harmlose
Lifestyle-Produkt gegen Schlafprobleme und diffuse Nervosität,
es wurde 1957 von Grünenthal auf den Markt gebracht. Erst
Ende 1961, als die Häufung von behindert geborenen Babys
längst augenfällig war, wurde es vom Markt genommen. Und
erst danach verabschiedete die Bundesrepublik ein Arzneimittelgesetz,
das ausgiebige klinische Tests an neuen Medikamenten vorschrieb.
Ein Fakt, mit dem Grünenthal, mit dem dessen Besitzer-Familie
Wirtz bis heute die eigene Verantwortung bagatellisiert.
„Die Ballung von ehemaligen Nazis
bei Grünenthal scheint mir wirklich auffällig. Vielleicht
hat das Unternehmen damals bewusst auf dieses Netzwerk von
Medizinern zurückgegriffen. Dass das Mittel Contergan bis
heute auf dem Markt ist und immer noch gegen Lepra und als
Krebsmittel eingesetzt wird, ist ein Skandal für sich“,
sagt der Berliner Medizinhistoriker Christoph Kopke.
War Contergan einst ein Gegenmittel für Sarin
Der Sprecher des Thalidomide Trusts,
des britischen Verbandes der Contergan-Opfer, Martin Johnson,
hegt seit 2009 einen noch weitergehenden Verdacht. Johnson
ist davon überzeugt, dass Contergan nicht erst in den 50er
-Jahren bei Grünenthal entwickelt wurde, sondern bereits
in den frühen Vierzigern bei Rhone Poulenc. Die Firma war
der französische Zweig von IG Farben, jenem Chemiekonzern,
der auch das Konzentrationslager Auschwitz III betrieb.
Johnson sammelt seit Jahren Beweise für die These, dass Thalidomid
– so der ursprüngliche Name von Contergan – als Gegenmittel
zu Nervengiften wie Sarin entwickelt wurde.
Giftgas-Experte und Vorstandsmitglied
bei IG Farben war der Chemiker Otto Ambros. Ambros stand
im IG Farben-Prozess vor Gericht, er galt als ein Hauptverantwortlicher
für das KZ Auschwitz III. „In den Nürnberger Prozessen wurde
Ambros zu acht Jahren Haft verurteilt. Nachdem er das Gefängnis
in Landsberg verlassen hatte, zog er im Nadelstreifen-Anzug
bei Grünenthal ein. Ambros wurde dort Aufsichtsrat“, sagt
Stephan Nuding, einer von etwa 2300 in Deutschland noch lebenden
Contergan-Geschädigten.
Opfer musste 16-maloperiert werden
Jahrzehnte hatte er sich mit seinem
Schicksal arrangiert. 2007 schließlich strahlte die ARD den
Zweiteiler „Eine einzige Tablette“ aus. „Ich wollte den Film
eigentlich nicht sehen, aber dann habe ich geheult wie ein
kleines Kind. So viel Verdrängtes kam hoch“, erzählt Nuding,
der die ersten sechs Jahre seines Lebens zumeist im Krankenhaus
verbrachte und 16 Operationen über sich ergehen ließ.
Nun kämpft Nuding, als Opfer und
als Historiker, der die Hintergründe des Skandals aufdecken
will. Stephan Nuding: „Wir sind fünfzig und unsere Körper
fühlen sich an wie achtzig. Aber noch haben wir die Kraft!“ derwesten.de
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