8.07.2004  
  Keine Chance für Simon Wiesenthal - wie die deutsche Justiz NS-Verbrecher schont
René Althammer und Kristina Tschenett
 
 

Dieser Mann ist ein Kriegsverbrecher, Kontraste hatte über ihn berichtet. Doch die deutschen Gerichte haben viel Verständnis für Massenmörder wie ihn. Naziverbrechen können in Deutschland kaum noch geahndet werden.

René Althammer und Kristina Tschenett berichtet. Die Geschichte beginnt mit einem Foto von damals. Das Foto ist unzumutbar. Wir muten es ihnen zu. Nur wer hinsieht läuft nicht Gefahr, sein Gedächtnis zu verlieren.

Dr. Stefan Klemp, Historiker:
" Es liegen Hinweise, Zeugenaussagen vor, die darauf hindeuten, dass diese Fotos eben in Frankreich im Sommer 1944 aufgenommen worden sein können."

Wer die Bilder aufgenommen hat, wer die Männer sind - bisher ist nur wenig bekannt. Sicher ist, die Bilder, die noch nie veröffentlicht wurden, dokumentieren ein grauenhaftes Verbrechen von Angehörigen deutscher Truppen.

Der Historiker Stefan Klemp arbeitet seit Jahren an der Aufklärung deutscher Kriegsverbrechen im besetzten Frankreich. Seit einigen Wochen versucht er die Spur der Bilder zurückzuverfolgen.

Er stützt sich dabei auch auf Aussagen französischer Zeugen. Diese Zeugen glauben, dass die Frau die jüdische Widerstandskämpferin Marianne Cohn ist. Ihre Leiche fand man nach Kriegsende halbnackt in einem Massengrab.

Dr. Stefan Klemp, Historiker:
" Ja, die Zeugenaussagen berufen sich darauf auf die Kleidungsstücke, die zu sehen sind und auf einem anderen Foto sieht man dann die Sandalen von ihr. Und da gibt es Zeugen, die meinen, das seien Kleidungsstücke und die Sandalen dieser Marianne Cohn gewesen, die dann, hier lebt das Opfer ja noch, in dem Fall, später ermordet worden ist."

Waren die Männer auf dem Foto auch die Mörder? Stefan Klemp versucht es herauszufinden.

Auch Efraim Zuroff will wissen, wer die Männer sind. Der Direktor des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem hat eine internationale Kampagne gestartet, die "Operation last chance", die letzte Gelegenheit, um noch lebende Nazi-Kriegsverbrecher aufzuspüren, auch die Männer auf den Fotos.

Dr. Efraim Zuroff, Simon-Wiesenthal-Zentrum:
" Wir machen Pressekonferenzen in den einzelnen Ländern, schalten Anzeigen in den Zeitungen. Wir setzen eine Belohnung für jeden aus, der uns mit Informationen hilft, diese Leute vor Gericht zu bringen. Und dabei hoffen wir auch auf eine breite Unterstützung in Deutschland."

Zuroff glaubt, dass im Rahmen der Kampagne "Last Chance" auch die Männer auf den Fotos identifiziert werden können. Sollten sie noch leben, will Zuroff sie vor Gericht sehen. Viel Zeit bleibt nicht.

Dr. Efraim Zuroff, Simon-Wiesenthal-Zentrum:
" Wir haben wirklich wenig Zeit, um die letzten Nazi-Kriegsverbrecher vor Gericht zu bringen, wegen des Alters, der Gebrechlichkeit. Das ist wirklich die letzte Möglichkeit diese schrecklichen Verbrecher vor Gericht zu bringen."

Doch selbst wenn Zuroff die Männer ausfindig machen kann, ist fraglich, ob sie in Deutschland noch verurteilt werden können.

Hier, in Leipzig, hat der Bundesgerichtshof die Verurteilung von Nazi-Kriegsverbechern vor zwei Wochen fast unmöglich gemacht.

Der fünfte Strafsenat hob nämlich das Urteil gegen den ehemaligen SS-Obersturmbannführer Friedrich Engel auf.

Der sogenannte "Todesengel von Genua" wurde vom Hamburger Landgericht wegen der grausamen Ermordung von 59 italienischen Zivilisten zu sieben Jahren Haft verurteilt.

Der Bundesgerichtshof hob jetzt dieses Urteil auf. Begründung:

Prof. Wolfgang Krüger, Bundesgerichtshof:
" Weil es an den subjektiven Voraussetzungen des Mordmerkmals der Grausamkeit gefehlt hat."

Engel, so der Bundesgerichthof, sei kein Mörder, weil ihm keine grausamen Absichten nachgewiesen werden konnten. 1944 war Engel SS- und Polizeichef im besetzten Genua.

Hier in der Nähe von Genua wurden auf seinen Befehl die 59 Zivilisten erschossen - als Vergeltung für den Anschlag auf ein deutsches Soldatenkino.

Der italienische Militärstaatsanwalt Rivello hat Engel dafür bereits 1999 den Prozeß gemacht. Und zwar nicht wegen der Erschiessung, sondern wegen der besonderen Grausamkeit der Tat.

Pier Paolo Rivello, Militärstaatsanwalt (Archiv):
" Die Opfer kamen in kleinen Gruppen zum Erschiessungsort. Dort mußten sie auf einem Balken über einen Graben steigen, den jüdische Häftlinge ausgehoben hatten. In dem Graben sahen sie die bereits erschossenen Personen. Doch damit der Grausamkeiten nicht genug. Eine Gruppe von Offizieren aß und trank fröhlich mit Blick auf die Erschiessungen."

Doch allein die Grausamkeit der Tat reichte dem Bundesgerichtshof für die Verurteilung wegen Mordes nicht aus. Es sei durchaus nicht bewiesen, dass der Täter Engel den Ablauf der Erschiessungen mit grausamer Absicht geplant habe.

Prof. Wolfgang Krüger, Bundesgerichtshof:
" Der Bundesgerichtshof hat dem entgegen gehalten, dass die Sache unter größter Eilbedürftigkeit mit geringen personellen und sachlichen Mitteln durchgeführt werden mußte, und dass auch vermieden werden mußte, jedenfalls aus der Sicht desjenigen, der das durchzuführen hatte, dass diese Erschießungen in der Stadt Aufsehen erregten und möglicherweise zu Demonstrationen oder zu Aufruhr geführt hätten."

Eine Argumentation, die der Berliner Strafrechtler Felix Herzog empörend findet.

Prof. Felix Herzog, Strafrechtler, Humboldt-Universität:
" Dieses Argument hat mich auch sehr erschreckt. Das Argument lautet ja, es mußte schnell geschehen, es mußte heimlich geschehen, und es gab am Tatort Personalmangel. Wenn sie wollen, können eine ganze Reihe von Massenvernichtungsaktionen des NS-Regimes unter solchen Gesichtspunkten dann als möglicherweise subjektiv nicht grausam angesehen werden, weil halt die Betreffenden unter entsprechend, ich sage das mal so, das hört sich furchtbar an, schwierigen Rahmenbedingungen handeln mußten."

Egal, wie grausam die Erschiessungen waren, die Täter können ungestraft davonkommen.

Prof. Felix Herzog, Strafrechtler, Humboldt-Universität:
" Wenn man diese Linie weiter verfolgt, kommt man wirklich zu unmöglichen Ergebnissen. Man kommt hin bis hin zu dem Ergebnis, dass bestimmte Massenvernichtungsaktionen gegenüber den Juden möglicherweise keine subjektiv grausamen Taten gewesen sind, weil einfach die Betroffenen situativ gar nicht anders vorgehen konnten."

Dr. Efraim Zuroff, Simon-Wiesenthal-Zentrum:
" Es ist wirklich fraglich, ob es in Deutschland jetzt noch möglich ist, Nazi-Kriegsverbrecher vor Gericht zu bringen. Denn wenn die Ermordung von 59 Zivilisten kein Zeichen von Grausamkeit ist, dann weiß ich nicht, was sonst ein Zeichen für Grausamkeit sein soll."

Homepage Simon Wiesenthal Centre
Nein, wir glauben nicht, dass die Richter des 5. Leipziger Strafsenates des Bundesgerichtshofs furchtbare Richter sind. Aber sie haben einen furchtbaren Beschluss gefasst. Für unser Land und für das Ansehehn unseres Landes.