Jungle World 5 - 02. Februar 2005
 
  Letzte Gelegenheit
von kerstin eschrich
 
 

Mit der »Operation Last Chance« will das Simon-Wiesenthal-Zentrum noch nicht verurteilte NS-Verbrecher ausfindig machen. Einer von ihnen lebt in Göttingen.

Sie nahmen an Erschießungen und Vergasungen von Juden teil, sie waren Aufseher und Ärzte in Konzentrations- und Vernichtungslagern, sie waren beteiligt an der Ermordung behinderter Menschen und politischer Gegner. Viele der Männer und Frauen sind inzwischen gestorben, die wenigsten wurden für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen. Einige der NS-Mörder sprachen nach dem Krieg über ihre Gräueltaten, manche brüsteten sich damit im Kreis der »Kameraden«. Viele schwiegen, wollten ihre Verbrechen vergessen und vergessen machen, zur Zeit des Neubeginns, nach dem Ende.

Hans Friedrich hatte lange Zeit geschwiegen, bevor er einer Journalistin der BBC in einem Interview von seinen Erlebnissen während des Krieges erzählte. Damals gehörte der spätere Ingenieur der 1. SS-Infanteriebrigade an. 19 Jahre war Friedrich alt, als er 1940 der Waffen-SS beitrat. Zwar gibt er an, sich nicht mehr zu erinnern, an welchen Aktionen er beteiligt war, aber zu einer im Sommer 1941 fällt ihm doch etwas ein. Die 1. SS-Infanteriebrigade war zu der Zeit in der heutigen Ukraine damit beschäftigt, die sowjetische Bevölkerung und vor allem Juden zu ermorden. Die Brigade war eine der ersten deutschen Einheiten, die mit der Ermordung von jüdischen Frauen und Kindern in der Sowjetunion begann. »Versuchen Sie sich vorzustellen, da ist ein Graben mit Menschen auf der einen Seite und hinter ihnen Soldaten. Das waren wir, und wir haben geschossen. Und die, die getroffen wurden, fielen hinunter in die Grube«, sagt Friedrich im Interview.

Gefragt danach, ob er kein Mitgefühl mit den Menschen, den jüdischen Zivilisten, die er erschoss, empfunden habe, fällt seine Antwort kurz aus. »Nein«, sagt er. Sein fehlendes Mitleid erklärt er damit, dass er während seiner Jugend auf einem Bauernhof schlechte Erfahrungen mit Juden gemacht habe. Als die Interviewerin ihn fragt, was denn die Juden, die er erschoss, mit denen zu tun gehabt hätten, die ihn zu Hause angeblich schlecht behandelt haben sollen, gibt er zur Antwort: »Nichts, aber für uns waren sie Juden.«

Der britische Fernsehsender BBC2 sendete das Interview am 11. Januar im Rahmen einer Fernsehdokumentation zum Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz. In Großbritannien sorgte die Ausstrahlung für einigen Wirbel.

Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm, der Leiter der Zentralstelle zur Verfolgung von NS-Kriegsverbrechen in Ludwigsburg, erklärt der Jungle World, dass seine Behörde das Material, das zu Hans Friedrich vorliege, bereits an die Staatsanwaltschaft München I weitergegeben habe. Sie ist in Deutschland zuständig für Ermittlungen zu NS-Kriegsverbrechen. Allerdings kam »die Staatsanwaltschaft München I in Absprache mit der Staatsanwaltschaft Göttingen« überein, dass »Göttingen zuständig ist und dort die Ermittlungen geführt werden«, wie Walter Moser vom bayerischen Landeskriminalamt erläutert. Denn in Göttingen wohnt Hans Friedrich.

Schrimm will das Vorgehen nicht kommentieren. »In diesem Fall sind beide Staatsanwaltschaften zuständig«, sagte er. Die Aufgabe der Mitarbeiter der Zentralstelle sei es vor allem, Informationen über Nazi-Verbrecher zu sammeln und diese, falls ein Anfangsverdacht besteht, an die zuständigen Staatsanwaltschaften zu leiten. Pro Jahr reichten sie zehn bis zwölf Hinweise an die Behörden weiter. »Wir warten dabei allerdings nicht auf Anzeigen, sondern werten selber Archivmaterial systematisch aus.«

Ab 1950 war Deutschland wieder für die Gerichtsbarkeit zuständig. Seitdem wurden etwa 6 500 NS-Verbrecher von deutschen Gerichten verurteilt; zwischen 1945 und 1950, unter den West-Alliierten, waren es etwa 5 000. Schrimm schätzt, dass im gleichen Zeitraum in Osteuropa, dem Baltikum und Jugoslawien 10 000 NS-Täter verurteilt wurden. Genaue Zahlen sind nicht bekannt.

Wie viele Mörder noch unbehelligt in Deutschland leben, kann Schrimm nicht sagen. »Wir kennen ja nicht einmal alle Taten.« Er geht davon aus, dass einige Hundert oder Tausend noch am Leben sind. Bekannte Massenmörder vermutet er allerdings nicht unter ihnen. »Es geht eher um einzelne Tötungsdelikte.« Ausschließen will er aber auch nicht, dass etwa der Stellvertreter von Adolf Eichmann, Alois Brunner, oder der SS-Lagerarzt von Mauthausen, Aribert Heim, noch leben.

Das Konterfei Heims, der in Mauthausen unzählige Menschen mit Herzinjektionen ermordete, ist auf dem Flugblatt der Kampagne »Operation Last Chance« des Simon-Wiesenthal-Zentrums abgedruckt. Er wurde nie vor Gericht gestellt. Nach ihm wird international gefahndet. Efraim Zuroff, der Leiter des Zentrums in Jerusalem, glaubt, dass er noch lebt, da die Erben sein Vermögen auf einer Berliner Bank bisher nicht in Anspruch genommen haben.

Zuroff und Aryeh Rubin von der US-amerikanischen Stiftung Targum Shlishi eröffneten am 26. Januar in Berlin die Kampagne in Deutschland. »Wir wollen die noch lebenden Täter finden, bevor es zu spät ist, und sie den Behörden übergeben«, erklärte Zuroff.

Für Tipps, die zur Verurteilung eines NS-Mörders führen, sind 10 000 Euro Belohnung ausgesetzt, was umstritten ist. Das Fritz-Bauer-Institut, Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, lehnt eine Beteiligung an der Kampagne u.a. deswegen ab. Zuroff erklärt, dass der finanzielle Anreiz auch dazu da sei, öffentliche Aufmerksamkeit zu erreichen. »Außerdem ist es normale Praxis, wenn Verbrecher gesucht werden, für Hinweise zu ihrer Ergreifung eine Belohnung auszusetzen. Und diese Menschen sind Verbrecher.«

Oberstaatsanwalt Schrimm glaubt nicht, dass die Belohnung einen Anreiz darstelle. »Die Leute, die über 50 Jahre geschwiegen haben, werden sich davon nicht beeindrucken lassen. Aber wir haben natürlich nichts dagegen, wenn man uns hilft. Ganz im Gegenteil, wenn sie uns Material zu NS-Tätern übergeben, sind wir sehr froh.«

Alle Hinweise werden zunächst vom Simon-Wiesenthal-Zentrum geprüft. »Wir müssen untersuchen, ob der Tipp glaubwürdig ist, ob der Verdächtige noch lebt und gesund ist und ob es bereits ein Verfahren gegen die Person gab.« Die Kampagne läuft bereits seit Juli 2002 im Baltikum, ein paar anderen osteuropäischen Staaten und in Österreich. Dort habe man bislang 324 Hinweise erhalten, 79 Namen verdächtiger Personen konnten den Anklagebehörden übergeben werden.

Gesucht werden auch mehrere deutsche Soldaten, die eine Frau misshandelten. Auf zwei Ausschnitten eines Fotos, die ebenfalls auf dem Flugblatt des Simon-Wiesenthal-Zentrums abgedruckt sind, sieht man die Männer herzhaft lachen, während sie ein nacktes Bein betatschen. Das Opfer soll Marianne Cohn sein, die am 8. Juli 1944 bei Annemasse in Frankreich ermordet wurde. Viel mehr weiß man nicht über dieses Verbrechen. Es gibt nur das Bild.

»Es gibt keinen Grund der Welt, diese Menschen nicht vor Gericht zu bringen. Sie und ihre Taten zu ignorieren, wäre das falsche Signal für die Zukunft«, sagt Zuroff. Auch Hans Friedrich musste sich bisher noch nie vor Gericht verantworten.

Unter der Telefonnummer 030 - 69 56 95 54 werden Hinweise auf NS-Mörder entgegengenommen

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