Mit
der »Operation Last Chance« will das Simon-Wiesenthal-Zentrum
noch nicht verurteilte NS-Verbrecher ausfindig machen. Einer
von ihnen lebt in Göttingen.
Sie nahmen an Erschießungen und Vergasungen von Juden
teil, sie waren Aufseher und Ärzte in Konzentrations-
und Vernichtungslagern, sie waren beteiligt an der Ermordung
behinderter Menschen und politischer Gegner. Viele der Männer
und Frauen sind inzwischen gestorben, die wenigsten wurden
für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen. Einige der
NS-Mörder sprachen nach dem Krieg über ihre Gräueltaten,
manche brüsteten sich damit im Kreis der »Kameraden«.
Viele schwiegen, wollten ihre Verbrechen vergessen und vergessen
machen, zur Zeit des Neubeginns, nach dem Ende.
Hans Friedrich hatte lange Zeit geschwiegen, bevor er einer
Journalistin der BBC in einem Interview von seinen Erlebnissen
während des Krieges erzählte. Damals gehörte
der spätere Ingenieur der 1. SS-Infanteriebrigade an.
19 Jahre war Friedrich alt, als er 1940 der Waffen-SS beitrat.
Zwar gibt er an, sich nicht mehr zu erinnern, an welchen
Aktionen er beteiligt war, aber zu einer im Sommer 1941 fällt
ihm doch etwas ein. Die 1. SS-Infanteriebrigade war zu der
Zeit in der heutigen Ukraine damit beschäftigt, die
sowjetische Bevölkerung und vor allem Juden zu ermorden.
Die Brigade war eine der ersten deutschen Einheiten, die
mit der Ermordung von jüdischen Frauen und Kindern in
der Sowjetunion begann. »Versuchen Sie sich vorzustellen,
da ist ein Graben mit Menschen auf der einen Seite und hinter
ihnen Soldaten. Das waren wir, und wir haben geschossen.
Und die, die getroffen wurden, fielen hinunter in die Grube«,
sagt Friedrich im Interview.
Gefragt danach, ob er kein Mitgefühl mit den Menschen,
den jüdischen Zivilisten, die er erschoss, empfunden
habe, fällt seine Antwort kurz aus. »Nein«,
sagt er. Sein fehlendes Mitleid erklärt er damit, dass
er während seiner Jugend auf einem Bauernhof schlechte
Erfahrungen mit Juden gemacht habe. Als die Interviewerin
ihn fragt, was denn die Juden, die er erschoss, mit denen
zu tun gehabt hätten, die ihn zu Hause angeblich schlecht
behandelt haben sollen, gibt er zur Antwort: »Nichts,
aber für uns waren sie Juden.«
Der britische Fernsehsender BBC2 sendete das Interview am
11. Januar im Rahmen einer Fernsehdokumentation zum Konzentrations-
und Vernichtungslager Auschwitz. In Großbritannien
sorgte die Ausstrahlung für einigen Wirbel.
Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm, der Leiter der Zentralstelle
zur Verfolgung von NS-Kriegsverbrechen in Ludwigsburg, erklärt
der Jungle World, dass seine Behörde das Material, das
zu Hans Friedrich vorliege, bereits an die Staatsanwaltschaft
München I weitergegeben habe. Sie ist in Deutschland
zuständig für Ermittlungen zu NS-Kriegsverbrechen.
Allerdings kam »die Staatsanwaltschaft München
I in Absprache mit der Staatsanwaltschaft Göttingen« überein,
dass »Göttingen zuständig ist und dort die
Ermittlungen geführt werden«, wie Walter Moser
vom bayerischen Landeskriminalamt erläutert. Denn in
Göttingen wohnt Hans Friedrich.
Schrimm will das Vorgehen nicht kommentieren. »In
diesem Fall sind beide Staatsanwaltschaften zuständig«,
sagte er. Die Aufgabe der Mitarbeiter der Zentralstelle sei
es vor allem, Informationen über Nazi-Verbrecher zu
sammeln und diese, falls ein Anfangsverdacht besteht, an
die zuständigen Staatsanwaltschaften zu leiten. Pro
Jahr reichten sie zehn bis zwölf Hinweise an die Behörden
weiter. »Wir warten dabei allerdings nicht auf Anzeigen,
sondern werten selber Archivmaterial systematisch aus.«
Ab 1950 war Deutschland wieder für die Gerichtsbarkeit
zuständig. Seitdem wurden etwa 6 500 NS-Verbrecher von
deutschen Gerichten verurteilt; zwischen 1945 und 1950, unter
den West-Alliierten, waren es etwa 5 000. Schrimm schätzt,
dass im gleichen Zeitraum in Osteuropa, dem Baltikum und
Jugoslawien 10 000 NS-Täter verurteilt wurden. Genaue
Zahlen sind nicht bekannt.
Wie viele Mörder noch unbehelligt in Deutschland leben,
kann Schrimm nicht sagen. »Wir kennen ja nicht einmal
alle Taten.« Er geht davon aus, dass einige Hundert
oder Tausend noch am Leben sind. Bekannte Massenmörder
vermutet er allerdings nicht unter ihnen. »Es geht
eher um einzelne Tötungsdelikte.« Ausschließen
will er aber auch nicht, dass etwa der Stellvertreter von
Adolf Eichmann, Alois Brunner, oder der SS-Lagerarzt von
Mauthausen, Aribert Heim, noch leben.
Das Konterfei Heims, der in Mauthausen unzählige Menschen
mit Herzinjektionen ermordete, ist auf dem Flugblatt der
Kampagne »Operation Last Chance« des Simon-Wiesenthal-Zentrums
abgedruckt. Er wurde nie vor Gericht gestellt. Nach ihm wird
international gefahndet. Efraim Zuroff, der Leiter des Zentrums
in Jerusalem, glaubt, dass er noch lebt, da die Erben sein
Vermögen auf einer Berliner Bank bisher nicht in Anspruch
genommen haben.
Zuroff und Aryeh Rubin von der US-amerikanischen Stiftung
Targum Shlishi eröffneten am 26. Januar in Berlin die
Kampagne in Deutschland. »Wir wollen die noch lebenden
Täter finden, bevor es zu spät ist, und sie den
Behörden übergeben«, erklärte Zuroff.
Für Tipps, die zur Verurteilung eines NS-Mörders
führen, sind 10 000 Euro Belohnung ausgesetzt, was umstritten
ist. Das Fritz-Bauer-Institut, Studien- und Dokumentationszentrum
zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, lehnt eine Beteiligung
an der Kampagne u.a. deswegen ab. Zuroff erklärt, dass
der finanzielle Anreiz auch dazu da sei, öffentliche
Aufmerksamkeit zu erreichen. »Außerdem ist es
normale Praxis, wenn Verbrecher gesucht werden, für
Hinweise zu ihrer Ergreifung eine Belohnung auszusetzen.
Und diese Menschen sind Verbrecher.«
Oberstaatsanwalt Schrimm glaubt nicht, dass die Belohnung
einen Anreiz darstelle. »Die Leute, die über 50
Jahre geschwiegen haben, werden sich davon nicht beeindrucken
lassen. Aber wir haben natürlich nichts dagegen, wenn
man uns hilft. Ganz im Gegenteil, wenn sie uns Material zu
NS-Tätern übergeben, sind wir sehr froh.«
Alle Hinweise werden zunächst vom Simon-Wiesenthal-Zentrum
geprüft. »Wir müssen untersuchen, ob der
Tipp glaubwürdig ist, ob der Verdächtige noch lebt
und gesund ist und ob es bereits ein Verfahren gegen die
Person gab.« Die Kampagne läuft bereits seit Juli
2002 im Baltikum, ein paar anderen osteuropäischen Staaten
und in Österreich. Dort habe man bislang 324 Hinweise
erhalten, 79 Namen verdächtiger Personen konnten den
Anklagebehörden übergeben werden.
Gesucht werden auch mehrere deutsche Soldaten, die eine
Frau misshandelten. Auf zwei Ausschnitten eines Fotos, die
ebenfalls auf dem Flugblatt des Simon-Wiesenthal-Zentrums
abgedruckt sind, sieht man die Männer herzhaft lachen,
während sie ein nacktes Bein betatschen. Das Opfer soll
Marianne Cohn sein, die am 8. Juli 1944 bei Annemasse in
Frankreich ermordet wurde. Viel mehr weiß man nicht über
dieses Verbrechen. Es gibt nur das Bild.
»Es gibt keinen Grund der Welt, diese Menschen nicht
vor Gericht zu bringen. Sie und ihre Taten zu ignorieren,
wäre das falsche Signal für die Zukunft«,
sagt Zuroff. Auch Hans Friedrich musste sich bisher noch
nie vor Gericht verantworten.
Unter der Telefonnummer 030 - 69 56 95 54 werden Hinweise
auf NS-Mörder entgegengenommen
URL: www.jungle-world.com/seiten/2005/05/4813.php
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