60
Jahre nach Ende der Nazi-Herrschaft gibt es wohl nicht mehr
viele NS-Verbrecher, die ungeschoren davon kamen und heute
noch leben. Nun hat das Simon-Wiesenthal-Zentrum in Deutschland
die "Operation last Chance" gestartet: Hinweise,
die zur Verurteilung eines Nazis führen, werden mit
10.000 Euro belohnt. Doch die Aktion ist umstritten.
Berlin - Efraim Zuroff, Leiter des Simon-Wiesenthal-Zentrums
in Jerusalem, brachte es auf den Punkt: "The message
is simple", die Botschaft ist einfach: "Es geht
um Gerechtigkeit." Und die müsse schnell erfolgen. "Die
Zeit läuft uns weg." Möglicherweise gebe es
noch Tausende Holocaust-Täter, die für ihre Verbrechen
nie angeklagt worden seien, und die heute noch lebten, sagte
der Nazi-Jäger bei einer Pressekonferenz, die heute
im Berliner Reichstag stattfand. Die bundesdeutsche Bevölkerung
solle nun bei der Bestrafung - oder zumindest der Überführung
der Verbrecher - helfen. Das sei ihre historische Pflicht.
10.000 Euro lässt sich das Wiesenthal-Zentrum einen
Hinweis kosten, der zur Anklage eines NS-Täters führt.
Die "Operation Last Chance" läuft bereits
in Polen, den baltischen Staaten und Österreich - mit
gutem Erfolg, sagt Zuroff: 329 Namen habe seine Organisation
erhalten, gegen 79 Verdächtige sei inzwischen Anklage
erhoben worden. Dass es sich in den 329 Fällen um Nazi-Verbrecher
handelt, ist allerdings nicht gewiss. Zuroff: "Nicht
jeder, der beschuldigt wird, ist auch tatsächlich schuldig." Bevor
die Namen an die ermittelnde Staatsanwaltschaft übergeben
werden, würden drei Tests gemacht: Lebt der Beschuldigte
noch? Ist er noch gesund genug, um eine Gerichtsverhandlung
durchzustehen? Wurde er für die Taten angeklagt? Ziel
der Aktion sei es, NS-Verbrecher für ihre Taten zur
Verantwortung zu ziehen. "Egal wie alt sie sind, ob
75 Jahre oder 105", sagte Aryeh Rubin, Leiter der jüdischen
Stiftung Targum Shlishi aus Miami, die das Simon-Wiesenthal-Zentrum
bei der Operation unterstützt.
Aribert Heim ist so ein Fall: Der Mediziner ist dringend
verdächtig, im Jahre 1941 als SS-Lagerarzt des früheren
Konzentrationslagers Mauthausen zahlreiche Häftlinge
durch Herzinjektionen ermordet zu haben. Nach ihm wird aufgrund
eines Haftbefehls des Landgerichts Baden-Baden international
gefahndet. Dass Heim noch lebt, davon ist Zuroff überzeugt: "Er
hat auf einer Berliner Bank ein Vermögen von rund einer
Million Euro liegen. Wäre er tot, hätten sich seine
Erben längst gemeldet."
Dass Heim, Jahrgang 1914, noch unter den Lebenden weilt,
schließt auch der Leiter der Zentralstelle zur Verfolgung
von NS-Kriegsverbrechen, Kurt Schrimm, nicht aus. "Aber
andere große Fische werden heute wohl nicht mehr am
Leben sein", sagte er SPIEGEL ONLINE. Eventuell lebe
auch SS-Führer Alois Brunner noch. Seit Jahren zirkulierten
Gerüchte, wonach der prominente Helfer Adolf Eichmanns
bei der Judendeportation aus Wien sich in Damaskus aufhalte,
sagte Schrimm.
Dass die Gesuchten durch die "Operation Last Chance" überführt
würden, glaubt der Ludwigsburger Oberstaatsanwalt indes
nicht: "Ich verspreche mir keinen Erfolg davon. Menschen,
die 50 oder 60 Jahre so ein Geheimnis mit sich herum getragen
haben, werden nun nicht für die vergleichbar geringe
Summe von 10.000 Euro damit herauskommen." Auch dass
ein NS-Verbrecher sich selbst stelle, halte er für so
gut wie ausgeschlossen, sagte Schrimm. In seiner ganzen Karriere
habe er lediglich einen Fall erlebt, dass ein NS-Mann aufgrund
seiner eigenen Aussagen überführt wurde. Insgesamt
wurden seit 1950 etwa 6500 NS-Verbrecher allein von deutschen
Gerichten verurteilt. Wie viele Verbrecher ungeschoren davon
gekommen seien, sei nicht abzuschätzen. "Wir kennen
ja nicht einmal alle Taten."
Kritik an der "Operation last Chance" kommt von
Micha Brumlik, Direktor des Frankfurter Fritz-Bauer-Instituts,
Studien- und Dokumentationszentrums zur Geschichte und Wirkung
des Holocaust. "Das ist eine überflüssige,
gegenaufklärerische Aktion, da hier in erster Linie
an niedrige Instinkte, an Geldgier, appelliert wird - und
nicht an moralische Selbstverständigung. Scheinbar waren
die Veranstalter aber der Meinung, dass ohne die Aussetzung
einer Kopfprämie kein Ergebnis zu erzielen wäre",
sagte Brumlik SPIEGEL ONLINE. "Anstelle der Aufklärung
der Gesellschaft wird hier mit plakativen Mitteln versucht,
kurzfristig Aufmerksamkeit zu erregen."
Und weiter: "Selbstverständlich müssen auch
diese Verbrechen aufgeklärt werden. Aber: Die Täter,
die jetzt noch gesucht werden, sind hoch betagt, vermutlich
sind sie weder vernehmungs- noch verhandlungsfähig.
Natürlich sollten ihre Taten zur Diskussion gestellt
und erforscht werden. Der Weg, den das Simon-Wiesenthal-Zentrum
einschlägt, ist aber der falsche."
Konfrontiert mit dem Vorwurf sagte Aryeh Rubin: Kopfgeld
auf Verbrecher auszusetzen, sei eine üblich Praxis.
Tatsächlich ist für Hinweise, die zur Ergreifung
von Aribert Heim führen, bereits eine Belohnung in Höhe
von 130.000 Euro ausgesetzt. Vom deutschen Staat.
URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,338675,00.html |