July 22, 2011 Budapester Zeitung
Freispruch wegen Mangel an Beweisen…
ANAT KÁLMÁN

Sándor Képíró soll im Zweiten Weltkrieg für den Tod von 1.200 Zivilisten verantwortlich sein. Doch nun wurde der 1914 geborene, ehemalige ungarische Gendarm des Horthy-Regimes in Budapest in erster Instanz freigesprochen. Ein Urteil, das in Ungarn heftige Diskussionen auslöst.

Irgendwie wirkte alles irreal: die unerträglich stickige Hitze im Gerichtsaal des Budapester Stadtgerichts, der 97 jährige Angeklagte Sándor Képíró, der mit rot unterlaufenen Augen und Infusionsflasche auf seinem Rollstuhl herein geschoben wurde, die schlechte Qualität der Mikrofone, der Anwalt des Angeklagten, der kurz mal einnickte, die ältere der zwei Betreuerinnen des Angeklagten, die unerwartet aufsprang und beteuerte, dass sie über diesen Herrn nur das Beste sagen könne und er ihr doch erzählt habe, wie sehr er Heimweh nach Ungarn hatte und schließlich der Applaus der zahlreich versammelten rechtsextremistischen Jobbik-Anhänger, der aufbrandete, als der Richter das Urteil verkündete: Freispruch.

Freispruch aufgrund von Mangel an Beweisen, so endete diesen Montag der Prozess in erster Instanz gegen den 97-jährigen Sándor Képíró, der sich wegen des Verdachts auf Kriegsverbrechen durch Beteiligung an einem Massaker an 1.200 Serben, Roma und Juden im Jahre 1942 in der Nähe von Novi Sad verantworten musste. Dieses Urteil war zugleich ein Triumph für Ungarns Rechtsextremisten, deren Vertreter denn auch mit geschwollener Brust in Árpád-beflaggten T-Shirts und erhobener rechter Faust stolz aus dem Gerichtssaal marschierten. Rechtsgültig ist das Urteil jedoch noch nicht, denn mit Berufung ist zu rechnen.

Nicht nur Efraim Zuroff, der Direktor des Jerusalemer Wiesenthal- Zentrums hat sofort nach der Urteilsverkündung Revision gefordert, sondern auch Bruno Vekaric, der Sprecher des serbischen Gerichthofs für Kriegsverbrechen. Beide bestehen darauf: Das Urteil verhöhne die Opfer von damals, denn immerhin sei der Angeklagte in jenen Tagen im Januar 1942 nachweislich vor Ort gewesen und zwar nicht als Privatperson, sondern als Mitglied der ungarischen Besatzungspolizei, die seit 1940 in der von Horthy-Ungarn „heimgeholten“ Vojvodina stationiert war. Das hat er selbst sogar zugegeben. Und er hatte auch nachweislich Befehlsgewalt über eine kleinere Einheit gehabt. Dass er dabei nicht inaktiv war, berichten serbische und jüdische Zeitzeugen, Überlebende der Tragödie.

Belastende Akten verschwunden

Nichts desto trotz entschied das Budapester Gericht: Es gibt keinen handfesten Beweis einer direkten Beteiligung am besagten Massaker, ja man könne ihm noch nicht einmal nachweisen, dass er überhaupt darüber informiert gewesen wäre. Denn Sándor Képíró sagte aus, es hätte sich bei diesem Massaker um eine Säuberungsaktion der ungarischen Armee gehandelt. Er als einfacher Polizist hätte damit nichts zu tun gehabt. 1946 sah das Ganze noch etwas anders aus. Damals, vor der Machtergreifung der Kommunisten, konnte ihm ein ungarisches Gericht seine Schuld nachweisen und verurteilte ihn zu 14 Jahren Gefängnis. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich allerdings schon über Österreich nach Argentinien abgesetzt, wo er 50 Jahre lang unter einem anderen Namen lebte. Die Akten des Urteils von 1946, so heißt es, seien jedoch nicht mehr aufzufinden.

Eben darum fragt sich nicht nur die internationale Presse, wie es zu so einem glatten Freispruch kommen konnte. Auch in Budapest ist man über so viel Rehabilitierung zumindest erstaunt: Hätte das Gericht hier nicht etwas mehr juristische Fantasie walten lassen können? Wenn schon „nicht schuldig“ an diesem Massaker, so gehörte Sándor Képíró doch unzweifelhaft zu denen, die damals in Novi Sad anwesend waren und beim Vertreiben von Menschen aktiv mitwirkten. Beihilfe zum Mord also oder unterlassene Hilfeleistung würden auf der Hand liegen. Gäbe es da nicht noch ein breiteres Spektrum an juristischen Urteilsmöglichkeiten?

Wie dem auch sei, dieser Prozess zeigt wieder einmal deutlich, wie schwer es ist, lange zurück liegende Verbrechen neu vor Gericht zu bringen. Der Historiker Krisztian Ungváry meinte bereits im Vorfeld des Képiró- Prozesses, Képíró sei juristisch kaum eine Schuld nachzuweisen, auch wenn er moralisch durchaus verantwortlich zu machen sei. Das ist zweifelsohne eine sehr schmerzhafte Erfahrung.

Historische statt juristischer Verurteilung

Eine Erfahrung, die schon die Vertreter des Recski Szövetség, des Verbandes der Opfer des Gulags Recsk, machten, als sie Anfang der Neunziger Jahre unter der Leitung des 2007 verstorbenen Juristen Tibor Zimányi versuchten, kommunistische Verbrecher gerichtlich verurteilen zu lassen. Auch diese Verfahren scheiterten jeweils an mangelnden Beweisen. Darum erklärte János M. Rainer, der Direktor des 56–ger Forschungsinstituts in einem Interview für den Saarländischen Rundfunk im Jahre 2000: „Wir wollen solche Prozesse nicht mehr, denn sie enden für die Opfer immer tragisch. Die meisten Akten sind verschwunden und man kann faktisch nur noch wenig von dem nachweisen, was tatsächlich passiert war. Darum gehen wir anders vor: Wir machen diejenigen, die für begangene Verbrechen verantwortlich sind, in unseren Publikationen namentlich bekannt, und zwar mit unseren Quellenangaben. Das heißt, sie werden historisch verurteilt.“

Das ist ein Standpunkt. Und an den mag vielleicht auch der ungarische Historiker László Karsai gedacht haben, als er Efraim Zuroff in der ungarischen Tageszeitung Magyar Hírlap aufforderte, doch endlich von Prozessen abzulassen, für die nach 60 bis 70 Jahren kein Beweismaterial mehr vorliege.

Doch da gibt es noch einen anderen Standpunkt und der ist auch nicht ganz von der Hand zu weisen: Unsere zivilen Gesellschaften verurteilen jede Art von Mord, sei es Massenmord oder Mord an einem einzelnen Menschen. Mord verjährt nicht, Mord muss geahndet werden, ganz gleich zu welchem Zeitpunkt und unabhängig davon wie alt der Mörder ist. Das meinte auch Tibor Zimányi, als er in einem Interview sagte: „Was für eine Moral wollen Sie in einer Gesellschaft etablieren, in der ehemalige Vollstrecker einfach weiter gut leben dürfen?“ Efraim Zuroff und Bruno Vekaric berufen sich in ihrer Anklage auf Überlebende des Massakers, die übereinstimmend berichten, was in jenen eiskalten Januartagen des Jahres 1942 geschah, als man 1.200 Menschen aus ihren Häusern holte, zusammentrieb, erschoss und in die Donau warf. Für diese Überlebenden ist Sándor Képíró kein unbeschriebenes Blatt, ganz im Gegenteil. Darum hoffen Efraim Zuroff und Bruno Vekaric, dass die nächste Instanz diesen Zeugenaussagen mehr Beachtung schenken wird.

Kurze Zeit nach der Urteilsverkündung hat das Belgrader Institut für hebräische Sprache und Literatur für diesen Sonntag zu einer Protestkundgebung aufgerufen, zeitgleich in Belgrad und Novi Sad.