Sándor Képíró soll im Zweiten Weltkrieg für den Tod von 1.200 Zivilisten verantwortlich
sein. Doch nun wurde der 1914 geborene, ehemalige ungarische
Gendarm des Horthy-Regimes in Budapest in erster Instanz
freigesprochen. Ein Urteil, das in Ungarn heftige Diskussionen
auslöst.
Irgendwie wirkte alles irreal: die unerträglich stickige Hitze im Gerichtsaal
des Budapester Stadtgerichts,
der 97 jährige Angeklagte
Sándor Képíró, der mit rot unterlaufenen
Augen und Infusionsflasche
auf seinem Rollstuhl herein
geschoben wurde, die schlechte
Qualität der Mikrofone, der Anwalt
des Angeklagten, der kurz
mal einnickte, die ältere der zwei
Betreuerinnen des Angeklagten,
die unerwartet aufsprang und beteuerte,
dass sie über diesen Herrn
nur das Beste sagen könne und er
ihr doch erzählt habe, wie sehr er
Heimweh nach Ungarn hatte und
schließlich der Applaus der zahlreich
versammelten rechtsextremistischen
Jobbik-Anhänger, der aufbrandete,
als der Richter das Urteil
verkündete: Freispruch.
Freispruch aufgrund von Mangel
an Beweisen, so endete diesen Montag
der Prozess in erster Instanz
gegen den 97-jährigen Sándor
Képíró, der sich wegen des Verdachts
auf Kriegsverbrechen durch
Beteiligung an einem Massaker an
1.200 Serben, Roma und Juden im
Jahre 1942 in der Nähe von Novi
Sad verantworten musste. Dieses
Urteil war zugleich ein Triumph
für Ungarns Rechtsextremisten,
deren Vertreter denn auch mit geschwollener
Brust in Árpád-beflaggten
T-Shirts und erhobener
rechter Faust stolz aus dem Gerichtssaal
marschierten. Rechtsgültig
ist das Urteil jedoch noch nicht,
denn mit Berufung ist zu rechnen.
Nicht nur Efraim Zuroff, der Direktor des Jerusalemer Wiesenthal- Zentrums hat
sofort nach der Urteilsverkündung Revision
gefordert, sondern auch Bruno Vekaric, der
Sprecher des serbischen Gerichthofs für Kriegsverbrechen.
Beide bestehen darauf: Das Urteil verhöhne
die Opfer von damals, denn immerhin sei der
Angeklagte in jenen Tagen im Januar 1942 nachweislich
vor Ort gewesen und zwar nicht als Privatperson,
sondern als Mitglied der ungarischen Besatzungspolizei,
die seit 1940 in der von Horthy-Ungarn „heimgeholten“
Vojvodina stationiert war. Das hat er selbst
sogar zugegeben. Und er hatte auch nachweislich
Befehlsgewalt über eine kleinere Einheit gehabt.
Dass er dabei nicht inaktiv war, berichten
serbische und jüdische Zeitzeugen, Überlebende
der Tragödie.
Belastende Akten verschwunden
Nichts desto trotz entschied das Budapester Gericht:
Es gibt keinen handfesten Beweis einer direkten Beteiligung am
besagten Massaker, ja man könne ihm noch nicht einmal nachweisen,
dass er überhaupt darüber informiert gewesen wäre. Denn Sándor
Képíró sagte aus, es hätte sich bei diesem Massaker um eine Säuberungsaktion
der ungarischen Armee gehandelt. Er als einfacher Polizist hätte
damit nichts zu tun gehabt. 1946 sah das Ganze noch etwas anders
aus. Damals, vor der Machtergreifung der Kommunisten, konnte ihm
ein ungarisches Gericht seine Schuld nachweisen und verurteilte
ihn zu 14 Jahren Gefängnis. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich allerdings
schon über Österreich nach Argentinien abgesetzt, wo er 50 Jahre
lang unter einem anderen Namen lebte. Die Akten des Urteils von
1946, so heißt es, seien jedoch nicht mehr aufzufinden.
Eben darum fragt sich nicht nur die internationale
Presse, wie es zu so einem glatten Freispruch kommen konnte. Auch
in Budapest ist man über so viel Rehabilitierung zumindest erstaunt:
Hätte das Gericht hier nicht etwas mehr juristische Fantasie walten
lassen können? Wenn schon „nicht schuldig“ an diesem Massaker,
so gehörte Sándor Képíró doch unzweifelhaft zu denen, die damals
in Novi Sad anwesend waren und beim Vertreiben von Menschen aktiv
mitwirkten. Beihilfe zum Mord also oder unterlassene Hilfeleistung
würden auf der Hand liegen. Gäbe es da nicht noch ein breiteres
Spektrum an juristischen Urteilsmöglichkeiten?
Wie dem auch sei, dieser Prozess zeigt wieder
einmal deutlich, wie schwer es ist, lange zurück liegende Verbrechen
neu vor Gericht zu bringen. Der Historiker Krisztian Ungváry meinte
bereits im Vorfeld des Képiró- Prozesses, Képíró sei juristisch
kaum eine Schuld nachzuweisen, auch wenn er moralisch durchaus
verantwortlich zu machen sei. Das ist zweifelsohne eine sehr schmerzhafte
Erfahrung.
Historische statt juristischer Verurteilung
Eine Erfahrung, die schon die Vertreter des Recski
Szövetség, des Verbandes der Opfer des Gulags Recsk, machten, als
sie Anfang der Neunziger Jahre unter der Leitung des 2007 verstorbenen
Juristen Tibor Zimányi versuchten, kommunistische Verbrecher gerichtlich
verurteilen zu lassen. Auch diese Verfahren scheiterten jeweils
an mangelnden Beweisen. Darum erklärte János M. Rainer, der Direktor
des 56–ger Forschungsinstituts in einem Interview für den Saarländischen
Rundfunk im Jahre 2000: „Wir wollen solche Prozesse nicht mehr,
denn sie enden für die Opfer immer tragisch. Die meisten Akten
sind verschwunden und man kann faktisch nur noch wenig von dem
nachweisen, was tatsächlich passiert war. Darum gehen wir anders
vor: Wir machen diejenigen, die für begangene Verbrechen verantwortlich
sind, in unseren Publikationen namentlich bekannt, und zwar mit
unseren Quellenangaben. Das heißt, sie werden historisch verurteilt.“
Das ist ein Standpunkt. Und an den mag vielleicht
auch der ungarische Historiker László Karsai gedacht haben, als
er Efraim Zuroff in der ungarischen Tageszeitung Magyar Hírlap
aufforderte, doch endlich von Prozessen abzulassen, für die nach
60 bis 70 Jahren kein Beweismaterial mehr vorliege.
Doch da gibt es noch einen anderen Standpunkt
und der ist auch nicht ganz von der Hand zu weisen: Unsere zivilen
Gesellschaften verurteilen jede Art von Mord, sei es Massenmord
oder Mord an einem einzelnen Menschen. Mord verjährt nicht, Mord
muss geahndet werden, ganz gleich zu welchem Zeitpunkt und unabhängig
davon wie alt der Mörder ist. Das meinte auch Tibor Zimányi, als
er in einem Interview sagte: „Was für eine Moral wollen Sie in
einer Gesellschaft etablieren, in der ehemalige Vollstrecker einfach
weiter gut leben dürfen?“ Efraim Zuroff und Bruno Vekaric berufen
sich in ihrer Anklage auf Überlebende des Massakers, die übereinstimmend
berichten, was in jenen eiskalten Januartagen des Jahres 1942 geschah,
als man 1.200 Menschen aus ihren Häusern holte, zusammentrieb,
erschoss und in die Donau warf. Für diese Überlebenden ist Sándor
Képíró kein unbeschriebenes Blatt, ganz im Gegenteil. Darum hoffen
Efraim Zuroff und Bruno Vekaric, dass die nächste Instanz diesen
Zeugenaussagen mehr Beachtung schenken wird.
Kurze Zeit nach der Urteilsverkündung hat das
Belgrader Institut für hebräische Sprache und Literatur für diesen
Sonntag zu einer Protestkundgebung aufgerufen, zeitgleich in Belgrad
und Novi Sad.
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