17.07.2012, 10:44 sueddeutsche.de
Wiesenthal-Zentrum macht Ungarn schwere Vorwürfe
Von Joachim Käppner

Die Umstände, unter denen der mutmaßliche NS-Verbrecher László Csatáry in Budapest aufgespürt wurde, werfen ein schlechtes Licht auf Ungarn: Britische Reporter machten den 97-Jährigen ausfindig und nicht die ungarische Polizei - obwohl diese seine Adresse längst gekannt haben soll.

Ob dieser alte Mann je vor einem Gericht stehen wird? Der französische "NaziJäger" Serge Klarsfeld zweifelt daran. Denn der nun in Ungarn aufgespürte mutmaßliche Nazi-Kriegsverbrecher László Csatáry könnte vom politischen Rechtsruck in seiner Heimat profitieren: "Ich bin nicht sicher, dass die Entdeckung juristische Folgen haben wird bei dieser konservativen Regierung" unter Ministerpräsident Viktor Orbán in Ungarn, sagte Klarsfeld der Nachrichtenagentur AFP.

Deutliche Kritik an den ungarischen Behörden kam aus Jerusalem. Britische
Reporter hatten den Mann aufgespürt, nicht die ungarische Polizei. Dazu sagte der Direktor des Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem, Efraim Zuroff: "Wir verlangen, dass die Ungarn die Sache endlich angehen, Csatáry als Verdächtigen benennen, aufhören herumzulavieren."

Es sei leider möglich, dass Ungarn die Sache verschleppen wolle, um ein Verfahren zu vermeiden, das die Kollaboration des damaligen ungarischen Staates mit den Nazis 1944 auf schmerzliche Weise beleuchte. Er, Zuroff, habe der Staatsanwaltschaft in Budapest die Beweise schon 2006 geliefert, 2011 sogar Csatárys Budapester Adresse.

Eine andere Frage ist das Alter des Verdächtigen. Denn selbst wenn die Budapester Staatsanwaltschaft, welche noch "gegen Unbekannt" ermittelt, ihn anklagen wollte: Seine Chancen, mit 97 Jahren für nicht verhandlungsfähig
erklärt zu werden, sind naturgemäß hoch.

"Hohes Alter sollte Mörder nicht schützen"

Demjanjuk hatte nichts unversucht gelassen, sich als todkranken alten Mann zu präsentieren. Zuroff meint zum neuen Fall: "Hohes Alter sollte Mörder nicht schützen", so sagte er der Süddeutschen Zeitung; er wisse, dass Csatáry sogar noch Auto fahre.

Wenn überhaupt, wird es nur noch zu wenigen Prozessen gegen NS-Verbrecher kommen. Die Verantwortlichen in der deutschen Täter-Hierarchie sind lange verstorben. Gerichte der Bundesrepublik und der DDR verurteilten 20.000 Angeklagte aller NS-Dienstgrade, vom Todesschützen über den Ghettokommandanten bis zum Schreibtischtäter.

Das ist wahrscheinlich nur ein Bruchteil der Gesamtzahl jener Deutscher, die man nach heutigen Standards hätte anklagen können und gegen die Material vorgelegen hätte. Sie wurden aber wegen Verjährungs- und Amnestieregeln oder schlichtem Desinteresse der Strafverfolger während des Kalten Krieges nicht belangt.

Nummer eins auf Liste der noch lebenden NS-Verbrecher

Eine Sprecherin der Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer
Verbrechen in Ludwigsburg sagte der SZ , es gebe "heute mehrere hundert noch laufende Vorermittlungsverfahren". Auf der Liste stehen auch bekannte Namen wie Alois Brunner, die rechte Hand Adolf Eichmanns, des Cheforganisators der "Endlösung", oder der mörderische Lagerarzt Aribert Heim aus Mauthausen. Beiden gelang es, in der Nachkriegszeit unterzutauchen. Da sie heute etwa 100 Jahre alt wären, gilt als fast gesichert, dass sie inzwischen tot sind.

Unübersichtlich ist die Lage bei den ausländischen Helfern des Holocaust. Es
gab Zehntausende davon in den besetzten Ländern. Dem mutmaßlichen NSKriegsverbrecher Demjanjuk konnte 2011 keine individuelle Tat zugeschrieben
werden, er galt dem Gericht aber als ukrainischer Wachmann eines
Vernichtungslagers als mitschuldig an den Geschehnissen dort.


Csatárys Fall ist weit bedeutender. Zuroff hat ihn wegen des Ausmaßes der Vorwürfe sogar als Nummer eins auf die Liste der noch lebenden NSVerbrecher gesetzt - "aber er ist natürlich nicht historisch gesehen die Nummer eins."

Dennoch, so wiederum Serge Klarsfeld, wäre Csatáry "vor 30 Jahren noch Nummer 3500 auf unserer Liste gewesen". Aber heute leben nur noch wenige
Verdächtige.

Csatáry soll als verantwortlicher Polizeioffizier in der damals ungarischen Stadt Kassa (das heute slowakische Košice) für die Deportation von 15.700 Juden in das Vernichtungslager Auschwitz mitverantwortlich sein, wo die Opfer meistens umkamen. Das Regime unter Miklós Horthy, zu dem sich Ungarns Rechtsradikale heute offen bekennen, war den Deutschen ein williger Helfer bei der Ermordung der Juden.

Flucht nach Kanada
1948 wurde Csatáry in Abwesenheit zum Tode verurteilt, floh aber incognito nach Kanada. Erst 1997 wurde er enttarnt und verlor die kanadische Staatsbürgerschaft. Doch der Alte tauchte erneut ab. Reporter der Londoner Sun spürten ihn, mit Zutun des Wiesenthal Centers, nun in Budapest auf. Die Ludwigsburger Zentralstelle ist mit dem Fall Csatáry nicht befasst, da sie für ihn nach eigenen Angaben nicht zuständig ist. Das wäre sie nur, falls er Deutscher oder Mitglied deutscher Organisationen gewesen wäre oder deutschen Boden betreten hätte. "Wir haben ihn zwar auf dem Zettel", so die Sprecherin, aber es gebe in der Behörde keine Aktenbestände, die zur Aufklärung beitragen könnten.

Bis 1944 waren die Juden Ungarns der Vernichtung entgangen, weil das Land ein Bündnispartner der Deutschen war. Ministerpräsident Miklós Kállay widersetzte sich deren Ansinnen, die Deportation seiner eigenen Staatsbürger zu beginnen. Erst im März 1944 besetzte die Wehrmacht das Land. Dann begann die Mordmaschinerie sofort zu laufen.

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