19.07.2012 spiegel.de
Der rüstige Herr Csatáry blamiert Ungarns Justiz
Von Jan Puhl

Die Budapester Justiz hatte schon seit einem Jahr Hinweise darauf, dass der mutmaßliche Kriegsverbrecher László Csatáry in der Stadt lebte - doch sie unternahm nichts. So gaben die Nazi-Jäger vom Simon-Wiesenthal-Zentrum schließlich einem britischen Boulevardblatt den Tipp.

Die Rollläden vor den Fenstern sind geschlossen, László Csatáry hat sich in den zwei Zimmern seiner Wohnung an der Jagello-Straße 3 verkrochen. Hier im vornehmen 12. Budapester Bezirk steht er unter Hausarrest, darf das Haus nur noch verlassen, wenn der Staatsanwalt es erlaubt.

Am Mittwochmorgen hatten zwei Streifenwagen der Polizei vor der Tür gehalten und den 97-jährigen mutmaßlichen Kriegsverbrecher zum Verhör auf das Präsidium gebracht. Es sind fast genau 68 Jahre vergangen, seit Csatáry Juden mit der Peitsche in die Deportationszüge nach Auschwitz getrieben haben soll. Er sei unschuldig, er habe nur auf Befehl gehandelt, "seine Pflicht" getan, gibt er zu Protokoll. Nach vier Stunden durfte der alte Herr wieder nach Hause. Er hat sich für weitere Befragungen bereitzuhalten.
In der Woche zuvor noch hatte er sommerlich-sportlich mit Schiebermütze, heller Hose und kariertem Jackett bekleidet eine Runde gedreht: Bei Tomi's Laden an der Ecke kaufte er für gewöhnlich Milch, Brötchen, Mineralwasser und die rechtskonservative Zeitung "Magyar Nemzet" - ein rüstiger Rentner, schweigsam, aber höflich, sagen die Nachbarn.

Dabei führt das Jerusalemer Simon-Wiesenthal-Zentrum den Mann schon seit Jahren als meistgesuchten NS-Kriegsverbrecher. 1938 hatte Hitlers Verbündeter, der ungarische Reichsverweser Miklós Horthy, erreicht, dass Ungarn Teile der Slowakei zugeschlagen wurden. 1944 halfen ungarische Gendarmen dort, den Holocaust ins Werk zu setzen. Einer von ihnen war László Csatáry. In Kosice soll er geholfen haben, mehr als 15.000 Juden nach Auschwitz zu deportieren. Ein Sadist soll er gewesen sein, der es genoss, Frauen mit der Peitsche zu verprügeln.

Csatáry konnte in Ungarn ein behagliches Rentnerdasein führen

Nach dem Krieg setzte sich Csatáry nach Kanada ab, wo er als Kunsthändler sein Geld verdiente. Doch seine Vergangenheit holte ihn ein. 1997 floh er erneut und kehrte nach Budapest zurück. Die Behörden dort kümmerten sich nicht um ihn, er konnte ein behagliches Rentnerdasein führen.

Schließlich spürten die Nazi-Jäger vom Simon-Wiesenthal-Zentrum den Greis in der Jagello-Straße auf. Schon im September vergangenen Jahres alarmierten sie die ungarischen Behörden - doch die reagierten nicht. Also gab Efraim Zuroff, Chef des Wiesenthal-Zentrums, seine Informationen schließlich an eine britische Boulevard-Zeitung weiter, die Csatáry an der Wohnungstür stellte und in Unterhose und Hemd ablichtete.

Ungarns Justiz war, wieder einmal, blamiert. Das ganze Land war in den vergangenen Jahren stetig nach rechts gedriftet. 2010 gewann der Konservative Viktor Orbán die absolute Mehrheit, die antisemitische Jobbik-Partei wurde drittgrößte Kraft. Orbán ließ eine neue Verfassung in Kraft setzen, die wegen ihrer Verstöße gegen demokratische Standards bei den EU-Partnern Proteste auslöste. Dass die Staatsanwaltschaft am Mittwoch dann doch noch Streifenwagen schickte, war sicher auch internationalem Druck geschuldet. Außerdem war Staatspräsident Janos Ader in dieser Woche in Jerusalem zu Gast. Auf dem Gelände des Holocaust-Mahnmals Yad Vashem nahm er an einer Feierstunde zu Ehren des Judenretters Raoul Wallenberg teil, dem viele Budapester Juden ihr Leben verdanken. Da hätte es schlecht gepasst, wenn der greise Kriegsverbrecher seinen Lebensabend weiterhin unbehelligt hätte genießen können.

"Die Verbrechen der Kommunisten sind viel präsenter"

Dass der 97-Jährige jetzt zügig verurteilt wird, glaubt in Budapest jedoch niemand. Auch der liberale Historiker Krysztián Ungváry gibt zu: "Die Beweise sind sehr schwach." Zwar könne jeder "ziemlich sicher" davon ausgehen, dass Csatáry gewusst haben muss, dass er Juden in den sicheren Tod schickte. Doch ob die Staatsanwaltschaft das auch zweifelsfrei nachweisen könne, sei unsicher. Und ohne diesen Nachweis würde ein Gericht ihn womöglich freisprechen - so wie vor zwei Jahren den Angeklagten Sándor Képiró.

Képiró soll als SS-Handlanger 1943 an Judenerschießungen in Novi Sad beteiligt gewesen sein. In erster Instanz war ihm das nicht nachzuweisen gewesen. Er starb, bevor das Verfahren noch einmal aufgerollt werden konnte. Auch Képiró hatte zuvor jahrelang unbehelligt in Budapest gelebt.

Dass mutmaßliche Kriegsverbrecher sich in Ungarn so sicher fühlen können, hängt auch mit dem kollektiven Geschichtsbild der Ungarn zusammen, glaubt Ungváry. Öffentliche Empörung darüber, dass Csatáry so lange ohne Angst vor Strafverfolgung in der Hauptstadt leben konnte, blieb jedenfalls aus. "Die Verbrechen der Kommunisten sind im Gedächtnis der Menschen viel präsenter", sagt Ungváry. Von denen, die 1956 den ungarischen Aufstand gegen den Stalinismus in Blut erstickten, sei kaum jemand zur Rechenschaft gezogen worden. Der damalige Innenminister Béla Biszku, der viele Hinrichtungen von Oppositionellen zu verantworten habe, führe heute ein ebenso geruhsames Rentnerleben wie Csatáry bis zur vorigen Woche.

Manche Ungarn haben nach Kräften am Holocaust mitgewirkt

Die Regierung Orbán propagiere zudem eine Sicht der Vergangenheit, nach der die Ungarn im Zweiten Weltkrieg vor allem Opfer zweier totalitärer Systeme gewesen seien: Erst sei das Land von Nazi-Deutschland besetzt, dann von der Sowjetunion unterworfen worden. Orbán hat die neue Verfassung sogar so formulieren lassen, dass sie die Schuldlosigkeit der Ungarn an den Verbrechen im Zweiten Weltkrieg explizit festschreibt.

In Wirklichkeit aber haben manche Ungarn nach Kräften am Holocaust mitgewirkt. "Täter wie Csatáry und Képiró erinnern uns unangenehm an diese Verantwortung, die viele hier am liebsten verdrängen wollen", sagt Ungváry.
Schon unter dem autoritär regierenden "Reichsverweser" Horthy hatte das Budapester Parlament nach NS-Muster antisemitische Gesetze verabschiedet und so Juden aus dem öffentlichen und wirtschaftlichen Leben Ungarns fast völlig verdrängt. Nachdem die Wehrmacht im März 1944 das Land besetzt hatte, setzten die Deportationen ein. Die Deutschen konnten sich auf die Mithilfe ungarischer Antisemiten verlassen. In knapp zwei Monaten wurden mehr als 430.000 Juden in nach Auschwitz deportiert. "Damit haben sich die Ungarn die schnellste und brutalste Massendeportation des Holocaust zuschulden kommen lassen", sagt Ungváry.

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