Die Budapester Justiz hatte schon seit einem Jahr Hinweise darauf, dass der
mutmaßliche Kriegsverbrecher László Csatáry in der Stadt
lebte - doch sie unternahm nichts. So gaben die Nazi-Jäger
vom Simon-Wiesenthal-Zentrum schließlich einem britischen
Boulevardblatt den Tipp.
Die Rollläden vor den Fenstern sind geschlossen, László Csatáry hat sich in den
zwei Zimmern seiner Wohnung an der Jagello-Straße 3 verkrochen.
Hier im vornehmen 12. Budapester Bezirk steht er unter Hausarrest,
darf das Haus nur noch verlassen, wenn der Staatsanwalt es
erlaubt.
Am Mittwochmorgen hatten zwei Streifenwagen
der Polizei vor der Tür gehalten und den 97-jährigen mutmaßlichen
Kriegsverbrecher zum Verhör auf das Präsidium gebracht. Es
sind fast genau 68 Jahre vergangen, seit Csatáry Juden mit
der Peitsche in die Deportationszüge nach Auschwitz getrieben
haben soll. Er sei unschuldig, er habe nur auf Befehl gehandelt, "seine Pflicht" getan, gibt er zu Protokoll. Nach vier Stunden durfte der alte Herr wieder nach
Hause. Er hat sich für weitere Befragungen bereitzuhalten.
In der Woche zuvor noch hatte er sommerlich-sportlich mit
Schiebermütze, heller Hose und kariertem Jackett bekleidet
eine Runde gedreht: Bei Tomi's Laden an der Ecke kaufte er
für gewöhnlich Milch, Brötchen, Mineralwasser und die rechtskonservative
Zeitung "Magyar
Nemzet" - ein rüstiger Rentner, schweigsam, aber höflich, sagen die Nachbarn.
Dabei führt das Jerusalemer Simon-Wiesenthal-Zentrum
den Mann schon seit Jahren als meistgesuchten NS-Kriegsverbrecher.
1938 hatte Hitlers Verbündeter, der ungarische Reichsverweser
Miklós Horthy, erreicht, dass Ungarn Teile der Slowakei zugeschlagen
wurden. 1944 halfen ungarische Gendarmen dort, den Holocaust
ins Werk zu setzen. Einer von ihnen war László Csatáry. In
Kosice soll er geholfen haben, mehr als 15.000 Juden nach
Auschwitz zu deportieren. Ein Sadist soll er gewesen sein,
der es genoss, Frauen mit der Peitsche zu verprügeln.
Csatáry konnte in Ungarn ein behagliches
Rentnerdasein führen
Nach dem Krieg setzte sich Csatáry
nach Kanada ab, wo er als Kunsthändler sein Geld verdiente.
Doch seine Vergangenheit holte ihn ein. 1997 floh er erneut
und kehrte nach Budapest zurück. Die Behörden dort kümmerten
sich nicht um ihn, er konnte ein behagliches Rentnerdasein
führen.
Schließlich spürten die Nazi-Jäger
vom Simon-Wiesenthal-Zentrum den Greis in der Jagello-Straße
auf. Schon im September vergangenen Jahres alarmierten sie
die ungarischen Behörden - doch die reagierten nicht. Also
gab Efraim Zuroff, Chef des Wiesenthal-Zentrums, seine Informationen
schließlich an eine britische Boulevard-Zeitung weiter, die
Csatáry an der Wohnungstür stellte und in Unterhose und Hemd
ablichtete.
Ungarns Justiz war, wieder einmal,
blamiert. Das ganze Land war in den vergangenen Jahren stetig
nach rechts gedriftet. 2010 gewann der Konservative Viktor
Orbán die absolute Mehrheit, die antisemitische Jobbik-Partei
wurde drittgrößte Kraft. Orbán ließ eine neue Verfassung
in Kraft setzen, die wegen ihrer Verstöße gegen demokratische
Standards bei den EU-Partnern Proteste auslöste. Dass die
Staatsanwaltschaft am Mittwoch dann doch noch Streifenwagen
schickte, war sicher auch internationalem Druck geschuldet.
Außerdem war Staatspräsident Janos Ader in dieser Woche in
Jerusalem zu Gast. Auf dem Gelände des Holocaust-Mahnmals
Yad Vashem nahm er an einer Feierstunde zu Ehren des Judenretters
Raoul Wallenberg teil, dem viele Budapester Juden ihr Leben
verdanken. Da hätte es schlecht gepasst, wenn der greise
Kriegsverbrecher seinen Lebensabend weiterhin unbehelligt
hätte genießen können.
"Die Verbrechen der Kommunisten
sind viel präsenter"
Dass der 97-Jährige jetzt zügig verurteilt
wird, glaubt in Budapest jedoch niemand. Auch der liberale
Historiker Krysztián Ungváry gibt zu: "Die Beweise sind sehr schwach." Zwar könne jeder "ziemlich sicher" davon ausgehen, dass Csatáry gewusst haben muss, dass er Juden in den sicheren
Tod schickte. Doch ob die Staatsanwaltschaft das auch zweifelsfrei
nachweisen könne, sei unsicher. Und ohne diesen Nachweis
würde ein Gericht ihn womöglich freisprechen - so wie vor
zwei Jahren den Angeklagten Sándor Képiró.
Képiró soll als SS-Handlanger 1943
an Judenerschießungen in Novi Sad beteiligt gewesen sein.
In erster Instanz war ihm das nicht nachzuweisen gewesen.
Er starb, bevor das Verfahren noch einmal aufgerollt werden
konnte. Auch Képiró hatte zuvor jahrelang unbehelligt in
Budapest gelebt.
Dass mutmaßliche Kriegsverbrecher
sich in Ungarn so sicher fühlen können, hängt auch mit dem
kollektiven Geschichtsbild der Ungarn zusammen, glaubt Ungváry.
Öffentliche Empörung darüber, dass Csatáry so lange ohne
Angst vor Strafverfolgung in der Hauptstadt leben konnte,
blieb jedenfalls aus. "Die Verbrechen der Kommunisten sind im Gedächtnis der Menschen viel präsenter", sagt Ungváry. Von denen, die 1956 den ungarischen Aufstand gegen den Stalinismus
in Blut erstickten, sei kaum jemand zur Rechenschaft gezogen
worden. Der damalige Innenminister Béla Biszku, der viele
Hinrichtungen von Oppositionellen zu verantworten habe, führe
heute ein ebenso geruhsames Rentnerleben wie Csatáry bis
zur vorigen Woche.
Manche Ungarn haben nach Kräften am
Holocaust mitgewirkt
Die Regierung Orbán propagiere zudem
eine Sicht der Vergangenheit, nach der die Ungarn im Zweiten
Weltkrieg vor allem Opfer zweier totalitärer Systeme gewesen
seien: Erst sei das Land von Nazi-Deutschland besetzt, dann
von der Sowjetunion unterworfen worden. Orbán hat die neue
Verfassung sogar so formulieren lassen, dass sie die Schuldlosigkeit
der Ungarn an den Verbrechen im Zweiten Weltkrieg explizit
festschreibt.
In Wirklichkeit aber haben manche
Ungarn nach Kräften am Holocaust mitgewirkt. "Täter wie Csatáry und Képiró erinnern uns unangenehm an diese Verantwortung,
die viele hier am liebsten verdrängen wollen", sagt Ungváry.
Schon unter dem autoritär regierenden "Reichsverweser" Horthy
hatte das Budapester Parlament nach NS-Muster antisemitische
Gesetze verabschiedet und so Juden aus dem öffentlichen und
wirtschaftlichen Leben Ungarns fast völlig verdrängt. Nachdem
die Wehrmacht im März 1944 das Land besetzt hatte, setzten
die Deportationen ein. Die Deutschen konnten sich auf die
Mithilfe ungarischer Antisemiten verlassen. In knapp zwei
Monaten wurden mehr als 430.000 Juden in nach Auschwitz deportiert. "Damit haben sich die Ungarn die schnellste und brutalste Massendeportation des
Holocaust zuschulden kommen lassen", sagt Ungváry. spiegel.de
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