December 6, 2004  
  Die neue Initiative des Terror-Hauses und ihre Hintergründe
Suche nach den unentdeckten Gerechten
 
 

Das Budapester Haus des Terrors sucht seit Oktober dieses Jahres nach Menschen, die sich während des ungarischen Faschismus für verfolgte Mitbürger eingesetzt haben. Den „Menschen in der Unmenschlichkeit“ soll 60 Jahre nach dem ungarischen Holocaust endlich die Ehre und der Dank zukommen, die ihnen über Jahrzehnte hinweg verweigert wurden. Die Aktion geht auf eine Initiative der Historikerin Mária Schmidt zurück und ist Teil des Holocaust-Gedenkjahres. Inzwischen sind im Rahmen des Aufrufes 450 Meldungen beim Haus des Terrors eingegangen.

Die Initiative des Terror-Hauses zeigt die zentrale Bedeutung der einzigen Institution in Ungarn, die eine Brücke schlägt zwischen den beiden großen Diktaturen des vergangenen Jahrhunderts – zwischen der faschistischen und kommunistischen Ära. Eine Schlüsselrolle im Verarbeitungs- und Heilungsprozess beim Umgang mit der Vergangenheit nimmt die bekannte Historikerin Mária Schmidt ein, die das Terror-Haus leitet. Sie versucht seit Jahren, die Kluft in der ungarischen Gesellschaft zu schließen, die durch den Streit verschiedener Gruppen entstanden ist, wer am meisten unter welchem System zu leiden hatte.

Davon abgesehen kann sie die ungarische Geschichte vor einer tagespolitischen „Vermarktung“ retten. Für viele war das Haus des Terrors bislang eine rechtsgerichtete Institution, die sich vor allem auf die Verbreitung von anti-kommunistischen Gefühlen konzentrierte. Dazu beigetragen haben Auftritte wie die des früheren Premierministers Viktor Orbán, der nach seiner Wahlniederlage 2002 vor dem Museum stand und sich mit den Worten gegen die sozialistischen Sieger erhob: „Das ist das Einzige, was wir haben, das bleiben wird.“ Sollte nun das Bedürfnis, den couragierten Widerstandskämpfern im Faschismus Dankbarkeit zu zollen, als ernsthaftes Anliegen bestehen bleiben, wird Schmidt einen weiteren großen Schritt zur Authentisierung der Geschichte machen. So könnte sie das Museum als den Ort hervorheben, von dem sie behauptet hat, dass er „wirklich die Vergangenheit überwinden kann“.

Der gesellschaftliche Kummer ist in Ungarn fehlgeleitet, noch immer sind Nachbarn wütend auf Nachbarn. Die Erinnerung an die Verluste des Holocausts, in dem 150.000 Kinder innerhalb weniger Monate umkamen, an die Vernichtung von Häusern, Geschäften, Familien und Leben in den stalinistischen Rákosi-Jahren, an die Gefolterten während der Revolution 1956, an die Entgleisungen des Lebens unter Kádár – all dies führt schnell zu Auseinandersetzungen statt zu gegenseitiger Sympathie.

Die ungarische Geschichte, vor allem die moderne Geschichte, ist aus den dunklen Jahren entstanden – einer Ära, die István Rév vom Archiv des Open Society Institute (OSI) als „Geschichte des Vergessens“ bezeichnet hat. Die einstudierten Lügen des Kommunismus sind auf einen Realitätsschock gestoßen, auf ein neues Erwachen, das wiederum mit Verleugnung einhergeht. Das ist zum Teil verständlich: Das Unglaubliche trifft auf den Unglauben. Warum sollte es überraschend sein, dass die Verleugnung bis heute präsent ist, wenn sie in der Vergangenheit immer präsent war?

Die Rolle der Historiker ist eng verbunden mit einer mentalen Gesundheit, mit der Konkurrenz zwischen Interessengruppen, den finanziellen Quellen und anderen Kräften, die sie vom rechten Pfad abbringen wollen. Dieser Weg spiegelt sich für Mária Schmidt wider in ihrer Kampagne zur Suche nach den Namen der ungarischen Gerechten: „Wir müssen uns vom Kummer abwenden, denen Dank sagen, die damals Leben erhalten haben, und diejenigen bestrafen, die sich schuldig gemacht haben.“ Das Haus des Terrors setzt mit seiner Ausstellung zum 60. Jahrestag des ungarischen Holocausts ein deutliches Zeichen dafür, dass das Museum inzwischen mehr Wert auf die Vergangenheit als auf seine rechtsgerichtete Reputation legt.

Der einzige Stolperstein auf Mária Schmidts Weg wird verkörpert durch den Datenschutzbeauftragten Attila Péterfalvi, der sich mit großer medialer Beachtung als Unterstützer der Suche nach den ungarischen Gerechten präsentiert. Diese Unterstützung ist insofern suspekt, als dass sie von jenem Ombudsmanns stammt, der erklärt hatte, das Wiesenthal-Zentrum und seine Suche nach ungarischen Nazis, den Pfeilkreuzlern, beziehungsweise die Weitergabe der Daten ins Ausland verletze die Datenschutzbestimmungen. Ungarn bleibt das einzige Land in der Region, das die Untersuchungen des Wiesenthal-Zentrums blockiert. Sollte die Untersuchung und Verfolgung der Urgroßväter fortgesetzt werden, die heute ihre Urenkel in die Schule bringen? Ja, vor allem weil dieselbe Verfassung, die Péterfalvi erlaubt hat, die Nachforschungen des Wiesenthal-Zentrums zu stoppen, den jungen Faschisten des Landes bis heute erlaubt, das Pfeilkreuz zu feiern.

Ohne Frage haben einige – vielleicht sogar viele – wichtige Politiker Ungarns aktive Verantwortung während des Holocausts zugegeben. Im Rahmen der mutigen „Geschichte des Vergessens“ klingen ihre Worte aber hohl und inhaltsleer. Nur wenige Ungarn wissen, was damals wirklich passiert ist, vor allem weil noch heute – nach 15 Jahren Demokratie – in den Schulbüchern der ungarische Holocaust, in dem fast 8% der Bevölkerung umkamen, mit weniger als 500 Worten abgehandelt wird. Das allgemein „obligatorische“ Thema Shoa ist weit entfernt von jeder Verbindlichkeit.

Die Ungarn mögen wissen, dass der Höhepunkt des ungarischen Holocausts der Todesmarsch nach Hegyeshalom war. Einige wenige mögen wissen, dass in diesem Gewaltmarsch die letzten der ungarischen Juden, die Jungen, Gebrechlichen, Kranken, Schwangeren in die 20.000 gesunden Juden eingereiht wurden, die zu jenen 60.000 „ausgeliehenen“ Menschen zählten, die eine unbesiegbare Abwehr um Wien gegen die heranrückende Rote Armee bilden sollten.

Aber wieviele Ungarn wissen: Dass die Schwangeren „ausgeliehen“ wurden, um Schützengräben auszuheben? Im Winter zu marschieren? Als jeder schon wusste, dass der Krieg verloren war? Wissen sie, warum Hans Jutter, der bewährte SS-General, auf seiner Fahrt von Wien aus so schockiert war von der Straße, die übersät war mit Ermordeten und Selbstmördern, dass er direkt beim SS-Hauptquartier und der Budapester Polizei Beschwerde einlegte?

Sollte die Geschichte, die das Wiesenthal-Zentrum repräsentiert, konserviert werden? Sollten jene Kommunisten, die sich schuldig gemacht haben, bloßgestellt und wenn möglich bestraft werden? Kann den fast 3.000 ungarischen Gerechten für ihre Güte wirklich angemessen gedankt werden? Kann Mária Schmidt sich von Péterfalvis Schatten absetzen und der Größe der Gerechten gerecht werden – als eine Vertreterin der historischen Wahrheit, die heilen wird?

Haus des Terrors
Geöffnet: Dienstag bis Freitag: 10 bis 18 Uhr
Samstag und Sonntag: 10 bis 19.30 Uhr
VI. Andrássy út 60
Tel.: 374 2606
www.terrorhaza.hu