20.09.2012 europeonline-magazine.eu
Freiheitskämpfer oder SS-Schergen? Umstrittenes Gedenken in Lettland

Das Gedenken an Mitglieder der SS-Legion sorgt knapp 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs für böses Blut zwischen dem EU-Land Lettland und Russland. Moskau sieht darin eine Verherrlichung des Nationalsozialismus - Riga verehrt die Kämpfer als Helden.

Riga (dpa) - Der Kalte Krieg um die Geschichte tobt zwischen dem EU-Mitglied Lettland und Russland schärfer denn je. Aufgebracht verurteilt das Außenministerium in Moskau die Führung in Riga dafür, mit einem Soldatendenkmal den Nationalsozialismus zu verherrlichen. Das in der Vorwoche enthüllte Monument in Bauska erinnert 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg auch an Einheiten der Lettischen Legion, die zur Waffen-SS gehörte.

Es ist keinesfalls das erste Mal, dass den baltischen Staaten neofaschistische Umtriebe vorgeworfen werden. «Immer wieder gibt es Versuche, frühere SS-Soldaten zu heroisieren», kritisiert der Leiter des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem, Efraim Zuroff. Lettland versuche, die Rolle seiner Bürger im Holocaust zu verschleiern. «Nicht ein einziger Kollaborateur ist jemals verfolgt oder bestraft worden», schimpft Zuroff. Auch deshalb erteilt der Nazi-Jäger dem Land in seinem Jahresbericht regelmäßig die schlechteste Note.

An der Rolle des kleinen Landes im Zweiten Weltkrieg entzündet sich auch mit Russland immer wieder Streit. Für den Kreml waren die Letten willige Kollaborateure, die nach Adolf Hitlers Überfall auf die Sowjetunion die Wehrmacht begeistert willkommen hießen und sich am Massenmord an den Juden beteiligten.

Dass viele Balten froh waren, als die Wehrmacht 1941 die Rote Armee vertrieb, und auch dem deutschen Militär beitreten wollten, bestreitet auch Karlis Kangeris nicht. «In Stalins Sowjetunion haben viele Letten eine größere Bedrohung als im nationalsozialistischen Deutschland gesehen», erklärt der Historiker. Das gilt auch für die Nachbarn in Estland - dort sorgte etwa vor einigen Jahren die Umsetzung eines Sowjetdenkmals für Proteste der großen russischen Minderheit.

Für viele Balten bedeutete die deutsche Kapitulation 1945 keine Befreiung, sondern den Beginn der als Besatzung empfundenen Sowjetzeit. Damit verbunden waren auch Massenumsiedlungen von Hunderttausenden Esten, Letten und Litauern.

Zudem behauptet Riga, dass die auf Befehl Hitlers aufgestellte Lettische SS-Freiwilligen-Legion mit mehr als 100 000 Mitgliedern nicht in den Holocaust verwickelt gewesen sei. Aktiv eingebunden aber war die lettische Sicherheitspolizei. Viele Einheimische machten sich beim Massenmord an den Juden, die als Sündenböcke für sowjetische Verbrechen galten, zu Mittätern.

Ihr großes Trauma haben die Balten im Okkupationsmuseum in der lettischen Hauptstadt Riga ständig vor Augen. Hinter Glas hängt dort ein Faksimile des Hitler-Stalin-Paktes von 1939, in dem die Diktatoren das Schicksal der drei baltischen Staaten für die folgenden mehr als 50 Jahre besiegelten.

Bis heute prägt das Abkommen das Selbstverständnis der EU- und NATO-Mitglieder Estland, Lettland und Litauen. Auch deshalb ist dort die Integration der großen russischen Minderheit ungelöst. Experten gehen nicht davon aus, dass sich das Verhältnis zwischen Balten und Russen in absehbarer Zeit entspannt.

Ein Grund ist das Gedenken beider Seiten an die Geschichte in Riga. Während ehemalige Soldaten der Roten Armee traditionell am 9. Mai den «Tag des Sieges» begehen, marschieren lettische SS-Veteranen am 16. März zum «Tag des Legionärs» durch die Stadt. Die Empörung auf beiden Seiten schlägt stets hohe Wogen.

europeonline-magazine.eu