13.01.2003 Kulturzeit
  Kopfgeldjagd in Litauen
Efraim Zuroff will die letzten Nazi-Verbrecher fassen

 
 

In Jerusalem kennt man ihn nur als den "Nazijäger": Efraim Zuroff, den Leiter des Simon Wiesenthal-Zentrums, der weltweit größten Organisation zur Verfolgung von Naziverbrechern. Seine letzte Aktion: die "Operation Last Chance". Mit Kopfgeldern von 10.000 Dollar, mit Annoncen und Aufrufen will er die letzten Mörder in den baltischen Staaten vor Gericht bringen.

Die Täter sollen für Massaker wie das auf dem Bild der Anzeige dargestellte büßen: "Das ist ein wahnsinniges Bild. Da war eine Menge versammelt, mit Frauen und Kindern, die sich die Hinrichtungen ansahen. Immer wenn jemand getötet wurde, klatschten die Leute", sagt Efraim "Effie" Zuroff. "Und am Schluss nahm einer der jungen Männer, der sehr aktiv an den Morden teilgenommen hatte, ein Akkordeon raus und spielte die litauische Nationalhymne - und alle sangen mit.“

Das Echo des Massenmords klingt immer noch nach in den Straßen von Vilnius. 60.000 Juden waren in das berüchtigte Ghetto der Stadt gepfercht. Heute erinnert gerade einmal ein David-Stern an der Hauswand an das "Jerusalem von Litauen", wie Vilnius vor dem Holocaust stolz von seiner jüdischen Bevölkerung genannt wurde. Als die Nazis kamen, wurden sie begeistert von den litauischen Faschisten begrüßt. Tausende Litauer beteiligten sich am Massenmord.

Massiver Protest

Eine Vergangenheit, an die man in Vilnius nur ungern erinnert wird. Kaum waren die Anzeigen Effie Zuroffs in den Tageszeitungen erschienen, rührte sich massiver Protest in Medien und Bevölkerung. 10.000 Dollar Belohnung für jeden, der einen der litauischen Nazi-Kollaborateure an die Justiz verrät? Das, so kommentierte das Wochenmagazin "Veidas", seien dieselben Methoden, mit denen die Nazis Juden in ihren Verstecken aufgespürt haben. "Genauso gut könnten sie sagen, die amerikanische Regierung wende Nazi-Methoden an, um Osama bin Laden zu finden", sagt Zuroff. "Die setzen eine Belohnung von 25 Millionen Dollar aus. Wir zahlen viel weniger. Aber die Botschaft ist dieselbe: Wir sind entschlossen, alles nur Mögliche zu tun, um diese Leute vor Gericht zu bringen."

Zutritt verboten

Jetzt hat der litauische Feldzug gegen die Nazijagd sogar das Parlament erreicht. Offen macht ein Politiker der "Partei für den Fortschritt des Volkes" Stimmung gegen Effie Zuroff. "Wenn es nach mir ginge, würden wir diesen Zuroff zur persona non grata erklären, also zu einer Person, die kein Recht mehr hat, in unser Land Litauen einzureisen", sagt Ejgidijus Klumbys, Parlamentarier der Partei für den Fortschritt des Volkes.

Und doch haben sich in der jüdischen Gemeinde von Vilnius schon jetzt an die hundert Zeitzeugen gemeldet. Jeden Tag bekommt Gemeindevorsteher Simon Alperovich Briefe von Litauern, die von den Gräueltaten ihrer Landsleute während der Nazizeit berichten. "Und eines ist besonders erstaunlich: Kaum einer derer, die uns geschrieben haben, hat sich wegen des Kopfgeldes gemeldet", sagt Simon Alperovich von der Jüdischen Gemeinde Vilnius, "es geht den Leuten um die Sache selbst."

Augenzeugen berichten

Als die Nazis in das kleine Dorf Gargzdai einmarschierten, war Justinas Jokubaitis 15 Jahre alt. Seine Familie hasste die Faschisten, die litauischen so sehr wie die deutschen. Vom Schulhof aus sah er, wie seine Landsleute auf dem Hügel gegenüber die Juden folterten. "Sie trieben die Frauen den Berg hoch und runter, Deutsche und Litauer, schlugen sie immer wieder. Wir Kinder schrien: 'Was macht Ihr Mörder da?' Da schossen sie in unsere Richtung, um uns wegzuscheuchen und wir mussten zurück in die Klasse", erinnert sich der Zeitzeuge Jokubaitis. "Dort fragte der Priester, der Religionslehrer: 'Wer hat diesen Aufstand angezettelt?' Einer sagte 'Der Jokubaitis war's!' und da schlug mich der Priester so brutal auf's Ohr, dass es den ganzen Sommer wehtat."

In Gargzdai wollen die meisten bis heute von einer Mittäterschaft nichts wissen. "Nein, nur die Deutschen schossen damals auf die Juden. Die Litauer hatten nichts damit zu tun", sagt eine Dorfbewohnerin. "Aber natürlich waren auch Litauer dabei", sagt eine Zweite, "die haben kräftig mitgeholfen." Worauf die erste antwortet: "Gut, aber nur, weil die Deutschen sie dazu gezwungen haben."

Problem mit der eigenen Geschichte

In Jerusalem geht Effie Zuroff schon viele Jahre in Gesprächen mit Überlebenden und Historikern wie dem aus Litauen stammenden Dov Levin einer Frage nach: Wieso sind so wenige Litauer bereit, sich der eigenen Geschichte und den Morden in über 40 Dörfern zu stellen? "Schauen Sie sich diese Staaten an: Weder in Litauen noch in Lettland oder Estland ist seit der Unabhängigkeit ein einziger Naziverbrecher vor Gericht gestellt worden“, sagt Zuroff. Der Historiker Dov Levin stimmt zu: "Das ist genau das Problem. Ich bin schon längst an den Litauern verzweifelt."

Justinas Jokubaitis will Zeugnis ablegen. Er erinnert sich genau, wer die Folterknechte der Deutschen waren, wer die Juden bewachte, die im Sommer 1941 in einer Scheune eingesperrt und dann ermordet wurden: "Einen kannte ich besonders gut: Antanas Puznaickis. Der war aus unserem Dorf. Der erzählte ganz stolz wie er die Leute gefoltert hat, kleine Kinder an den Beinen gepackt und gegen den Baum geschlagen hat."

URL: http://www.3sat.de/kulturzeit/themen/41643/