In
der Seebad Prora auf Insel Rügen, wurden Täter des Holocaust
ausgebildet. Das hat jetzt der Bremer Historiker Karl
Schneider herausgefunden, schreibt Sven Felix Kellerhoff
in der deutschen Tageszeitung „Die Welt“.
Im Dritten Reich unterstand die gesamte Polizei seit 1936 dem “Reichsführer SS”,
Heinrich Himmler. Das Reserve-Polizeibataillon 105 wurde
Ende September 1939 zunächst als “Ergänzungs-Bataillon
II” aufgestellt. Ernst wurde es für die Männer am 30.
April 1940: Ihr erster Marschbefehl führte sie nach Prora,
zur Ausbildung. Danach wurden die Polizisten weiter nach
Norwegen versetzt. Im Februar 1941 kehrte das Bataillon
zurück nach Bremen, um dann am 28. Mai 1941 erneut verlegt
zu werden, diesmal nach Ostpreußen in die Nähe der Grenze
zur damaligen Sowjetrepublik Litauen. Die litauische
Grenze überschritten die Ordnungshüter am 28. Juni 1941,
es kam gleich zu Judenverfolgung. Die Polizisten hielten
sich die wehrlosen Menschen als persönliche Sklaven.
Dabei war das Schicksal, dienstverpflichtet
für deutsche Besatzungseinheiten zu sein, noch das Beste,
was Juden in Litauen 1941 passieren konnte. Bremer Kaufmann
Hermann Gieschen als Mitglied des Polizei-Reservebataillons
105 schrieb an seine Frau Hanna: “Hier werden sämtliche
Juden erschossen. Die Juden sind Freiwild. Jeder kann
sich auf der Straße einen greifen, um ihn für sich in
Anspruch zu nehmen. Ich möchte in keiner Judenhaut stecken.”
Und geradezu zynisch fährt er fort: “Man kann den Juden
nur noch einen gut gemeinten Rat geben: Keine Kinder
mehr in die Welt zu setzen. Sie haben keine Zukunft mehr.”
Diese Briefe stammen alle
von Ende Juni und Anfang Juli 1941, also bevor die unterschiedslosen
Erschießungen aller Juden durch die Einsatzgruppen und
bald auch Polizeieinheiten begannen. Am 20. Juli 1941
notierte Gieschen aus dem litauischen Städtchen Jelgava,
auf Deutsch Mitau genannt: “Die Juden sind sämtlich heraus.
Wo man die Bande gelassen hat, weiß ich nicht. Jedenfalls
gibt es in Mitau keine Juden mehr. Sie müssen wohl auf
dem Land arbeiten.” In Wirklichkeit waren sie erschossen
worden, in einem Wald in der Nähe.
Kommandeur des Regiments 105
war Major Hans Helwes. Als er 1963 über seine Tätigkeit
im Zweiten Weltkrieg vernommen wurde, behauptete er:
“Während unseres Einsatzes im Osten war das mir unterstellte
Bataillon 105 niemals an irgendwelchen Aktionen gegen
Juden eingesetzt.” Gieschen, dessen Briefe das Schicksal
der Juden im Einsatzgebiet des Reserve-Polizeibataillons
105 belegten, war schon 1951 gestorben.
Die litauische Hauptstadt Vilnius war das Jerusalem des Ostens oder Nordens.
Das Jiddisch als Schriftsprache ist das Jiddisch, das
in Litauen gesprochen wurde, und die jüdische Sozialdemokratie
in Osteuropa ist 1897 in Vilnius gegründet worden. Die
jüdische Minderheit in Litauen hatte eine ganz große
Bedeutung für jüdische Kultur, Ostjuden und Osteuropa.
Co-Autor des Buches, Dr. Joachim Tauber, Jahrgang 1958, ist seit 2002 wissenschaftlicher
Mitarbeiter am Nordost-Institut/Institut für Kultur und
Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa e. V. an der
Universität Hamburg gab bei der Erscheinung des Buches
ein Interview für die Nachrichtenportal news.de, wo er
unter anderem ausführt:
„Litauen war die Testgelände für den Holocaust: In Auschwitz
begann der systematische Judenmord erst 1942. Aber die
ersten Mordaktionen, die auf die Auslöschung aller jüdischen
Menschen in einem Gebiet abzielten, fanden schon vorher
im Bereich der damaligen Sowjetunion statt, in den besetzten
baltischen Staaten. Nirgends sonst ist in der zweiten
Hälfte 1941 mit einer derartigen Effizienz, Brutalität
und Dynamik gemordet worden wie in Litauen. Wenn man
danach fragt, wo diese antisemitische, mörderische Stimmung
in die systematische Vernichtung umgeschlagen ist, wird
man zuerst auch auf Litauen schauen müssen.
Das waren Hilfspolizeieinheiten,
die von den Deutschen zu Massenverbrechen herangezogen
wurden. Es gab da richtige Killereinheiten, zum Beispiel
das in Kaunas stationierte Arbeitsbataillon. Aber man
muss auch die gesamte litauische Verwaltung mit einem
großen Fragezeichen versehen.“
Warum war in Litauen der Hass
auf die Juden und die Zusammenarbeit mit den Nazis so
groß? Darauf antwortete Tauber:
„Ein ganz entscheidender Punkt ist die sowjetische Besatzung
Litauens im Juli 1940 und das vermeintliche Verhalten
der jüdischen Minderheit in dieser Zeit. Da ist in Teilen
der litauischen Bevölkerung ein antikommunistische Haltung
entstanden, in der die Juden in Litauen als fünfte Kolonne
der Sowjets und Verräter an der litauischen Nation diffamiert
wurden.
Es gibt für diese angebliche
Affinität des litauischen Judentums zur Sowjetmacht praktisch
keine harten Daten. Die Juden als Minderheit standen
der Sowjetunion teilweise ebenfalls skeptisch gegenüber.
Es gab unter den Jugendlichen wohl eine gewisse Attraktivität
der sozialistischen und sowjetischen Idee. Aber das Bild,
dass die Juden die Sowjets gegen die Litauer unterstützt
haben, ist ein reiner Mythos. Doch auch solche Mythen
und Feindbilder spielten eine Rolle, und nach der deutschen
Besetzung kam es schnell zu ersten Abrechnungsaktionen.
Wichtig ist aber, dass diese ersten Morde noch unter
der Chiffre «Rache an Juden als Sowjetfreunde» liefen.
Der systematische Judenmord geschah erst später – da
wurden die Juden dann ermordet, weil sie Juden waren.
Auch der Umschwung, nicht nur Männer, sondern auch Frauen
und Kinder zu ermorden, fand erst im Hochsommer 1941
statt.“
Wie war die Beziehung zwischen
den Juden und dem Rest der litauischen Gesellschaft?
Darauf antwortete Tauber:
„Heute spricht man gerne von Parallelgesellschaften.
Das trifft es wohl ganz gut. Die Sprache der Juden in
Osteuropa war Jiddisch, die Verkehrssprache, mit der
sie in Litauen mit der nichtjüdischen Umwelt kommunizierten,
war aber in der Regel Polnisch oder Russisch, nicht Litauisch.
Es gibt viele Berichte von Juden, die den Zweiten Weltkrieg
nur überlebt haben, weil sie Litauisch sprachen. Dadurch
konnten sie in der Gesellschaft untertauchen. Oder sie
konnten bei einer Flucht aus dem Ghetto den litauischen
Wachposten, der sie entdeckte, auf Litauisch ansprechen,
und das reichte, damit der die Augen zumachte. Es gab
inzwischen auch die Prozesse gegen Kollaborateure. Sie
sind aber eingestellt worden, entweder aus Mangel an
Beweisen oder weil der Angeklagte nicht mehr verhandlungsfähig
war. Die Beschuldigten sind 80 oder 90 Jahre alt und
die Strategie ist, dass sie gesundheitlich nicht mehr
in der Lage sind, an dem Prozess teilzunehmen. Es gibt
eine Stimmungsmache, die Litauer würden gegen diese Leute
nicht vorgehen.
Die litauisch-jüdischen Beziehungen sind da ein wenig
vergiftet und auch in der Bundesrepublik gibt es einige
Stimmungsmacher, die Litauen vorwerfen, ein Paradies
für Kriegsverbrecher zu sein. Das ist aber nicht der
Fall. Ich habe sogar den Eindruck, die litauische Justiz
ist um einiges härter als die bundesdeutsche Justiz seit
den 1970er Jahren. Aber wie im deutschen Strafrecht muss
der individuelle Mord nachgewiesen werden und das ist
50 Jahre später natürlich äußerst schwierig.“
baltische-rundschau.eu
|