28.06.2012 baltische-rundschau.eu
Die Welt: Neue Erkenntnisse über Judenverfolgung in Litauen
Bildquelle: Das Buch „Holocaust in Litauen“ von Vincas Bartusevicius, Joachim Tauber und Wolfgram Wette

In der Seebad Prora auf Insel Rügen, wurden Täter des Holocaust ausgebildet. Das hat jetzt der Bremer Historiker Karl Schneider herausgefunden, schreibt Sven Felix Kellerhoff in der deutschen Tageszeitung „Die Welt“.

Im Dritten Reich unterstand die gesamte Polizei seit 1936 dem “Reichsführer SS”, Heinrich Himmler. Das Reserve-Polizeibataillon 105 wurde Ende September 1939 zunächst als “Ergänzungs-Bataillon II” aufgestellt. Ernst wurde es für die Männer am 30. April 1940: Ihr erster Marschbefehl führte sie nach Prora, zur Ausbildung. Danach wurden die Polizisten weiter nach Norwegen versetzt. Im Februar 1941 kehrte das Bataillon zurück nach Bremen, um dann am 28. Mai 1941 erneut verlegt zu werden, diesmal nach Ostpreußen in die Nähe der Grenze zur damaligen Sowjetrepublik Litauen. Die litauische Grenze überschritten die Ordnungshüter am 28. Juni 1941, es kam gleich zu Judenverfolgung. Die Polizisten hielten sich die wehrlosen Menschen als persönliche Sklaven.

Dabei war das Schicksal, dienstverpflichtet für deutsche Besatzungseinheiten zu sein, noch das Beste, was Juden in Litauen 1941 passieren konnte. Bremer Kaufmann Hermann Gieschen als Mitglied des Polizei-Reservebataillons 105 schrieb an seine Frau Hanna: “Hier werden sämtliche Juden erschossen. Die Juden sind Freiwild. Jeder kann sich auf der Straße einen greifen, um ihn für sich in Anspruch zu nehmen. Ich möchte in keiner Judenhaut stecken.” Und geradezu zynisch fährt er fort: “Man kann den Juden nur noch einen gut gemeinten Rat geben: Keine Kinder mehr in die Welt zu setzen. Sie haben keine Zukunft mehr.”

Diese Briefe stammen alle von Ende Juni und Anfang Juli 1941, also bevor die unterschiedslosen Erschießungen aller Juden durch die Einsatzgruppen und bald auch Polizeieinheiten begannen. Am 20. Juli 1941 notierte Gieschen aus dem litauischen Städtchen Jelgava, auf Deutsch Mitau genannt: “Die Juden sind sämtlich heraus. Wo man die Bande gelassen hat, weiß ich nicht. Jedenfalls gibt es in Mitau keine Juden mehr. Sie müssen wohl auf dem Land arbeiten.” In Wirklichkeit waren sie erschossen worden, in einem Wald in der Nähe.

Kommandeur des Regiments 105 war Major Hans Helwes. Als er 1963 über seine Tätigkeit im Zweiten Weltkrieg vernommen wurde, behauptete er: “Während unseres Einsatzes im Osten war das mir unterstellte Bataillon 105 niemals an irgendwelchen Aktionen gegen Juden eingesetzt.” Gieschen, dessen Briefe das Schicksal der Juden im Einsatzgebiet des Reserve-Polizeibataillons 105 belegten, war schon 1951 gestorben.

Die litauische Hauptstadt Vilnius war das Jerusalem des Ostens oder Nordens. Das Jiddisch als Schriftsprache ist das Jiddisch, das in Litauen gesprochen wurde, und die jüdische Sozialdemokratie in Osteuropa ist 1897 in Vilnius gegründet worden. Die jüdische Minderheit in Litauen hatte eine ganz große Bedeutung für jüdische Kultur, Ostjuden und Osteuropa.

Co-Autor des Buches, Dr. Joachim Tauber, Jahrgang 1958, ist seit 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Nordost-Institut/Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa e. V. an der Universität Hamburg gab bei der Erscheinung des Buches ein Interview für die Nachrichtenportal news.de, wo er unter anderem ausführt:
„Litauen war die Testgelände für den Holocaust: In Auschwitz begann der systematische Judenmord erst 1942. Aber die ersten Mordaktionen, die auf die Auslöschung aller jüdischen Menschen in einem Gebiet abzielten, fanden schon vorher im Bereich der damaligen Sowjetunion statt, in den besetzten baltischen Staaten. Nirgends sonst ist in der zweiten Hälfte 1941 mit einer derartigen Effizienz, Brutalität und Dynamik gemordet worden wie in Litauen. Wenn man danach fragt, wo diese antisemitische, mörderische Stimmung in die systematische Vernichtung umgeschlagen ist, wird man zuerst auch auf Litauen schauen müssen.

Das waren Hilfspolizeieinheiten, die von den Deutschen zu Massenverbrechen herangezogen wurden. Es gab da richtige Killereinheiten, zum Beispiel das in Kaunas stationierte Arbeitsbataillon. Aber man muss auch die gesamte litauische Verwaltung mit einem großen Fragezeichen versehen.“

Warum war in Litauen der Hass auf die Juden und die Zusammenarbeit mit den Nazis so groß? Darauf antwortete Tauber:
„Ein ganz entscheidender Punkt ist die sowjetische Besatzung Litauens im Juli 1940 und das vermeintliche Verhalten der jüdischen Minderheit in dieser Zeit. Da ist in Teilen der litauischen Bevölkerung ein antikommunistische Haltung entstanden, in der die Juden in Litauen als fünfte Kolonne der Sowjets und Verräter an der litauischen Nation diffamiert wurden.

Es gibt für diese angebliche Affinität des litauischen Judentums zur Sowjetmacht praktisch keine harten Daten. Die Juden als Minderheit standen der Sowjetunion teilweise ebenfalls skeptisch gegenüber. Es gab unter den Jugendlichen wohl eine gewisse Attraktivität der sozialistischen und sowjetischen Idee. Aber das Bild, dass die Juden die Sowjets gegen die Litauer unterstützt haben, ist ein reiner Mythos. Doch auch solche Mythen und Feindbilder spielten eine Rolle, und nach der deutschen Besetzung kam es schnell zu ersten Abrechnungsaktionen. Wichtig ist aber, dass diese ersten Morde noch unter der Chiffre «Rache an Juden als Sowjetfreunde» liefen. Der systematische Judenmord geschah erst später – da wurden die Juden dann ermordet, weil sie Juden waren. Auch der Umschwung, nicht nur Männer, sondern auch Frauen und Kinder zu ermorden, fand erst im Hochsommer 1941 statt.“

Wie war die Beziehung zwischen den Juden und dem Rest der litauischen Gesellschaft? Darauf antwortete Tauber:
„Heute spricht man gerne von Parallelgesellschaften. Das trifft es wohl ganz gut. Die Sprache der Juden in Osteuropa war Jiddisch, die Verkehrssprache, mit der sie in Litauen mit der nichtjüdischen Umwelt kommunizierten, war aber in der Regel Polnisch oder Russisch, nicht Litauisch. Es gibt viele Berichte von Juden, die den Zweiten Weltkrieg nur überlebt haben, weil sie Litauisch sprachen. Dadurch konnten sie in der Gesellschaft untertauchen. Oder sie konnten bei einer Flucht aus dem Ghetto den litauischen Wachposten, der sie entdeckte, auf Litauisch ansprechen, und das reichte, damit der die Augen zumachte. Es gab inzwischen auch die Prozesse gegen Kollaborateure. Sie sind aber eingestellt worden, entweder aus Mangel an Beweisen oder weil der Angeklagte nicht mehr verhandlungsfähig war. Die Beschuldigten sind 80 oder 90 Jahre alt und die Strategie ist, dass sie gesundheitlich nicht mehr in der Lage sind, an dem Prozess teilzunehmen. Es gibt eine Stimmungsmache, die Litauer würden gegen diese Leute nicht vorgehen. Die litauisch-jüdischen Beziehungen sind da ein wenig vergiftet und auch in der Bundesrepublik gibt es einige Stimmungsmacher, die Litauen vorwerfen, ein Paradies für Kriegsverbrecher zu sein. Das ist aber nicht der Fall. Ich habe sogar den Eindruck, die litauische Justiz ist um einiges härter als die bundesdeutsche Justiz seit den 1970er Jahren. Aber wie im deutschen Strafrecht muss der individuelle Mord nachgewiesen werden und das ist 50 Jahre später natürlich äußerst schwierig.“

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