21.5.2016, 05:30 Uhr nzz.ch
Was die Unsrigen taten
von Judith Leister

Nach dem 2. Weltkrieg machte es sich Litauen in der Rolle als Opfer der Sowjetbesatzung bequem. Das Mitläufertum beim Holocaust liess sich so leicht tabuisieren. Ruta Vanagaite redet endlich Klartext.

Der Holocaust in Litauen erfolgte ausserordentlich schnell und brutal. Im Zeitraum von Juni bis Dezember 1941 töteten Deutsche und Litauer rund 160 000 Juden. Die Übrigen wurden in die Ghettos von Kaunas, Siauliai und Vilnius eingesperrt. Nur rund 10 000 Litwaken, wie die Bezeichnung für Juden litauischer Herkunft lautet, überlebten. Wilna, das «Jerusalem des Ostens», eine zentrale Stätte jüdischer Gelehrsamkeit in Osteuropa, hörte auf zu existieren.

Mehr als nur ein paar Gauner

Die Tatsache, dass die überwiegende Zahl der Täter Litauer waren, vermittelt nun ein Sachbuch der litauischen Journalistin Ruta Vanagaite, «Musiskiai» («Die Unsrigen»), erstmals einem breiten Publikum. Der in der Forschung vielfach belegte Fakt, dass Litauer sich an ihren jüdischen Nachbarn vergingen und dass es litauische Polizeibataillone waren, die die Massenexekutionen durchführten, sorgt in dem baltischen Land für Aufregung.

Die erste Auflage von «Musiskiai» im Februar war nach anderthalb Tagen vergriffen. Inzwischen sind 19 000 Exemplare auf dem Markt. Zum Vergleich: Üblicherweise erscheinen Bücher in dem 2,8-Millionen-Einwohner-Land mit einer Auflage von 1500. «Ich hätte nie gedacht, dass mein Buch solch einen Skandal verursachen würde», sagt Ruta Vanagaite. «Litauische Historiker haben das Thema ja bereits erforscht, gelesen wurden die Bücher aber nur in Fachkreisen. Ich hatte herausgefunden, dass auch Teile meiner Familie in den Holocaust involviert waren. Mein Grossvater wurde beschuldigt, eine Liste von Juden zusammengestellt zu haben, als die Nazis kamen. Das Narrativ an litauischen Schulen ist noch immer oft, dass es ein paar Gauner waren, welche die Juden umgebracht haben. Es waren aber ganz gewöhnliche Leute. Zehntausende von Litauern waren beteiligt. Die Regierung und die Verwaltung kollaborierten. Man organisierte die Bewachung der Juden, das Ausheben der Gruben, den Verkauf des jüdischen Eigentums. Die Mörder an den Gruben waren meist sehr junge Litauer. Nur wenige Deutsche waren an den Erschiessungen beteiligt.»

Vanagaite beginnt ihr Buch mit den Porträts zweier junger Litauer, die dem Aussehen nach Brüder sein könnten. Der eine, Isakas Anolikas, war jüdischer Herkunft und holte 1928 bei den Olympischen Spielen in Amsterdam einen Sieg für das unabhängige Litauen. Er wurde 1943 in Kaunas ermordet. Der andere, Balys Norvaiaa, war litauischer Polizist und unter anderem an der Ermordung von 70 000 Menschen an der Massenerschiessungsstätte Paneriai bei Vilnius beteiligt. Nach dem Krieg soll er in die USA oder nach Grossbritannien emigriert sein.

Opfer – Täter – Bürger

«Mein Buch heisst ‹Die Unsrigen›, weil beides ‹unsere Leute› waren: die, die gemordet haben, und die, die ermordet wurden. Sie alle waren litauische Bürger. Die Mehrheit der Litauer akzeptiert weder, dass unsere Leute getötet haben, noch, dass die Juden ebenfalls zu ‹uns› gehören. Diese Haltung ist noch sehr präsent. Daher werden die Massengräber kaum besucht und gepflegt. Man weiss nicht, wer dort liegt, weil die Juden angeblich nicht zu ‹uns› gehören.»

Im ersten Teil des Buches stellt Vanagaite unterschiedliche Quellen – Zeugenaussagen, Tagebuchaufzeichnungen und Archivfunde – vor. Im zweiten Teil, der den Titel «Die Reise mit dem Feind» trägt, begibt sie sich mit ihrem Co-Autor Efraim Zuroff zu den Mordstätten in Litauen und Weissrussland und befragt Augenzeugen, die in den vierziger Jahren meist noch Kinder waren.

Zuroff, gebürtiger Amerikaner und Leiter des israelischen Simon-Wiesenthal-Zentrums, der auch gern als «letzter Nazijäger» bezeichnet wird, gilt in konservativen litauischen Kreisen als «Staatsfeind». Bereits seit der Unabhängigkeit Litauens von 1990 pocht er unnachgiebig auf Punkte wie die Rückgabe des Eigentums der früheren jüdischen Gemeinschaft oder die Auslieferung von nach Übersee geflüchteten Tätern an Litauen, deren Verfahren bisher von der Justiz verschleppt wurden.

Doch gibt es seit der Unabhängigkeit auch positive Signale. Bereits 1990 wurde im Parlament beschlossen, jüdische Friedhöfe wiederherzustellen und an den über 200 Mordstätten in Litauen Gedenktafeln zu errichten. 1995 bat der damalige Präsident Algirdas Brazauskas in Jerusalem für die Untaten von Litauern um Vergebung – erntete dafür in der Heimat jedoch viel Kritik.

Ein doppelter Genozid?

Bis heute Gültigkeit hat auch die umstrittene «Theorie des doppelten Genozids». Diese seit Ende der vierziger Jahre im Exil kursierende «Theorie» wurde 1991 sogar per Gesetz verankert. Demnach gab es in Litauen zwei Genozide: erstens den «Genozid» am litauischen Volk – damit ist die Deportation von Mitgliedern der litauischen Eliten durch die Sowjets gemeint – und zweitens den Holocaust an den Juden.

Dabei ist der «Genozid» an den Litauern das zentrale Erinnerungsmotiv und weist klar apologetische Züge auf. Die «Theorie» ist unter Bezug auf die Beteiligung jüdischer Kommunisten an der Verschleppung der Litauer in der Sowjetzeit entstanden und legt somit nahe, dass Litauer primär «Opfer» waren. «Ich halte die Theorie vom doppelten Genozid für verheerend, da sie den Holocaust verharmlost», sagt Ruta Vanagaite. «Schaut, die Juden wurden umgebracht, und wir wurden deportiert! Das ist gleichwertig! Aber wer unter Stalin deportiert wurde, hatte eine Chance zu überleben – auch als Jude. Diese Chance hatten Juden unter der deutschen Besatzung nicht.» In aufgeklärten Kreisen wird in Litauen statt «Genozid» eher der Begriff «Stratozid» für die Leiden der Litauer in den Jahren 1940 bis 1941 und 1941 bis 1948, insbesondere für die Deportationen in der Stalinzeit, verwendet.

«Angriff auf uns selbst»

Der Begriff stammt vom bekanntesten litauischen Schriftsteller und ehemaligen Dissidenten Tomas Venclova und ist vom Lateinischen «stratum» (Schicht, Klasse) abgeleitet. Er steht für die Ausschaltung bestimmter Schichten der Gesellschaft wie etwa der Intelligenz oder des reichen Bürgertums, wie sie zu Zeiten der Sowjetunion in vielen Ländern Osteuropas exekutiert wurde. Venclova war es auch, der bereits 1975 in einem Aufsatz auf die moralische Verantwortung Litauens für den Judenmord hinwies: «Wir müssen zugleich für alle Zeit verstehen, dass die Vernichtung der Juden unsere eigene Vernichtung, die Erniedrigung der Juden unsere eigene Erniedrigung ist und dass die Zerstörung der jüdischen Kultur ein Angriff auf uns selbst ist.»

Im Gegensatz zu diesem frühen Bekenntnis Venclovas, der die Sowjetrepublik Litauen 1977 verlassen musste, tauchen die Namen der meisten litauischen Historiker, die Vanagaites Arbeit unterstützten, in dem Buch nicht auf. Sie wollten lieber nicht genannt werden. «Möglicherweise», meint Vanagaite, «wird in Litauen nicht viel passieren, solange die Mörder und ihre direkten Nachfahren noch leben. Denn sie haben oft als Partisanen gegen die Sowjetunion gekämpft. Ihnen wurden Denkmäler errichtet, ihre Namen wurden in Schulen gelehrt.»

Für die Zukunft aber ist die Autorin optimistisch: «Ich hoffe, das Buch bereitet den Weg für künftige Historiker. Die Diskussion geht nun in die Familien. Alte Leute, die Angst hatten, etwas zu erzählen, fangen an, mit ihren Kindern und Enkeln zu sprechen. Sie verstehen: Was bei uns im Dorf passiert ist, war keine Ausnahme. Es ist überall in Litauen geschehen. Und die Enkel fangen an, Fragen zu stellen. Das will ich erreichen.»

 

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